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NachDenkSeiten - Die kritische Website 2a5z65
Unterstützt Kanzler Merz das von EU-Chefin von der Leyen geforderte langfristige Reparaturverbot für Nord Stream?
EU-Kommissionschefin und CDU-Parteikollegin des Kanzlers, Ursula von der Leyen, hatte am 16. Mai erklärt, dass sie präventiv mittels eines neuen EU-Sanktionspakets die mögliche Reparatur und Wiederinbetriebnahme von Nord Stream langfristig verhindern will. Mit der Sanktionierung der Reparatur von Nord Stream würde die EU de facto die mutmaßlich staatsterroristische Sprengung von ziviler Energieinfrastruktur gutheißen und belohnen. Vor diesem Hintergrund wollten die NachDenkSeiten wissen, ob Merz und die neue Wirtschaftsministerin Reiche diesen Schritt mit von der Leyen abgesprochen hatten und ob sie dieses Reparaturverbot, welches massive Auswirkungen auf die Versorgungsoptionen der Bundesrepublik Deutschland hat, ebenfalls unterstützen werden, wenn es dem US-Investor Stephen Lynch gelingt, Nord Stream zu kaufen. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Hintergrund Beim Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs im Format der sogenannten „Europäischen Politischen Gemeinschaft“ im albanischen Tirana am 16. Mai hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärt, dass sie mit allem Mitteln die mögliche Reparatur und Wiederinbetriebnahme der Nord-Stream-Pipelines verhindern will. In diesem Zusammenhang verkündete sie unmissverständlich: „Wir wollen verhindern, dass die zerstörten Pipelines jemals wieder ein strategisches Werkzeug Russlands werden.“ Der BSW-Abgeordnete im EU-Parlament Fabio de Masi und andere politische Beobachter wiesen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass ein langfristiges Verbot einer möglichen Reparatur von Nord Stream in Form von Sanktionierung sowohl die „faktische Belohnung der staatsterroristischen Sprengung von Energieinfrastruktur“ darstellen würde als auch, dass die EU damit beschließen würde, „dass Deutschland nie wieder günstiges Pipeline-Gas beziehen darf (selbst nach einem Frieden in der Ukraine)“ und stattdessen langfristig gezwungen wäre, für seine „Energiesicherheit“ teures US-Frackinggas zu erwerben (russisches Pipelinegas war Stand Februar 2022 um den Faktor 7 günstiger als US-amerikanische Frackinggas). Wir leben in der Matrix: Sollte die Reparatur von Nord Stream 2 sanktioniert werden, wäre das die faktische Belohnung der staatsterroristischen Sprengung von Energieinfrastruktur. Die EU würde beschließen, dass Deutschland nie wieder günstiges Pipeline-Gas beziehen darf (selbst… pic.twitter.com/DNCaOJBHeZ — Fabio De Masi (@FabioDeMasi) May 19, 2025 Was sagen Kanzler Merz und Wirtschaftsministerin Reiche zu diesem vdL-Vorstoß? Regierungssprecher Kornelius erklärte auf die entsprechende Frage der NachDenkSeiten: „Der Kanzler hat sich in dieser Frage selbst positioniert und hat klargemacht, dass eine Zertifizierung von Nord Stream momentan nicht denkbar ist.“ Hier fällt zumindest im Gegensatz zu vdLs langfristiger Ansage, dass Nord Stream niemals wieder in Betrieb gehen sollte, die Betonung des Merz-Sprechers von „momentan nicht …“ auf. Doch nur zwei Tage nach dieser Aussage in der Regierungspressekonferenz berichtete die britische Tageszeitung Financial Times unter Berufung auf „mit der Angelegenheit vertraute Regierungsbeamte“, dass Merz „aktiv“ ein geplantes EU-weites Verbot der Nord-Stream-Pipelines unterstütze, um einer möglichen Wiederinbetriebnahme durch Russland oder mit US-Unterstützung zuvorzukommen, jegliche innenpolitische Debatten über die Vorzüge einer möglichen Reaktivierung zu unterbinden sowie mittels des EU-weiten Verbots das Thema zu „vergemeinschaften“ und so bilateralen Druck auf Berlin durch Washington und Moskau zu umgehen: „Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz unterstützt „aktiv“ ein geplantes EU-Verbot der Nord-Stream-Pipelines, die Russland mit Deutschland verbinden, um jegliche Bemühungen der USA und Russlands zur Wiederaufnahme der Gasverbindungen zu unterbinden.“ US-Investor mit Interesse an Nord-Stream-Erwerb war kürzlich zu Besuch in Berlin Im Gegensatz zur Darstellung von Regierungssprecher Kornelius, der die Nachfrage der NachDenkSeiten zu der Möglichkeit des Erwerbs von Nord Stream durch den US-Investor als spekulativ darstellte („Sie haben jetzt Ihre Frage an verschiedene Konditionen geknüpft, die ich so nicht teilen kann“), berichtete die ZEIT am 24. Mai, dass der entsprechende US-Investor Anfang Mai auf Einladung des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin weilte, um genau über diese Pläne zu sprechen: „Stephen Lynch war am 6. Mai aus London eingeflogen. Das Ministerium hatte ihn zu einer Besprechung eingeladen, wie aus Teilnehmerkreisen verlautet. Die Berliner Beamten wollten mehr erfahren über den kühnen Plan des US-Investors: den Kauf und die Reparatur der Nordstream-Pipeline.“ Weiter heißt es in dem Artikel: „Dass Lynch es ernst meint mit seinen Plänen, zeigt, dass er dafür eigens nach Berlin gekommen ist, um mit hochrangigen Beamten zu sprechen.“ Vor einem solchen Kauf von Nord Stream bräuchte er allerdings noch die Genehmigung der US-Sanktionsbehörde (Ofac). Einen entsprechenden Antrag hat er allerdings schon vor Monaten gestellt. In dem Schreiben an die Ofac heißt es als Begründung für den Erwerb der Pipeline, dass eine solche Übernahme „den amerikanischen Einfluss auf die europäische Energie-Infrastruktur sichern (würde)“. Deutschland als Verlierer … Bereits jetzt stammen 91 Prozent (Stand März 2025) aller deutschen LNG-Importe aus den USA, Tendenz weiter steigend. Kämen dazu noch die 20 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, die über Strang B von einer in US-Hand befindlichen Nord-Stream-2-Pipeline transportiert werden könnten, wäre Deutschland sowohl bei LNG- wie bei Pipeline-Gas zu großen Teilen von US-Lieferanten abhängig. Zudem könnten die USA als Mittelsmann von Nord Stream zwischen Russland und Deutschland ohne viel Zutun ordentlich Gewinne abgreifen – ein US-Beamter erklärte dazu gegenüber der Financial Times bereits im März 2025 offen und frei: „Die US-Investoren würden damit ‚Geld für nichts‘ kassieren.“ Ebenso würde so ein Vorgehen Washington ermöglichen, damit seine Beziehungen zu Russland weiter auszubauen und Deutschland in Folge in eine noch weitere Energie- und auch politische Abhängigkeit zu treiben. Sowohl die Scholz- wie jetzt auch die Merz-Regierung haben Deutschland in Bezug auf Nord Stream in eine Situation manövriert, aus der Deutschland nur noch als Verlierer hervorgehen kann … Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 21. Mai 2025 Frage Warweg Auch zu dem Kontext der Sanktionierung von Nord Stream: Die EU-Kommissionschefin und Parteikollegen des Kanzlers hat am 16. Mai erklärt, dass sie präventiv mittels des schon genannten Sanktionspakets die mögliche Reparatur und Wiederinbetriebnahme von Nord Stream langfristig verhindern wolle. Vor dem Hintergrund würde mich interessieren: Hat denn die EU-Chefin diese Entscheidung, die ja direkte Auswirkungen auf die langfristigen Versorgungsoptionen der Bundesrepublik hat, zuvor mit dem Kanzler und auch mit der BMWE-Ministerin abgesprochen? Regierungssprecher Kornelius Der Kanzler hat sich in dieser Frage selbst positioniert und hat klargemacht, dass eine Zertifizierung von Nord Stream momentan nicht denkbar ist. Zusatzfrage Warweg Die Frage ging ja auch an das BMWE. Greve (BMWE) Dem habe ich nichts hinzuzufügen oder nur den einen Satz: Wir sind unabhängig von russischem Gas, und die Gasversorgungssituation in Deutschland ist sicher. Dem habe ich nichts hinzuzufügen. Zusatzfrage Warweg Die Sanktionierung der Reparatur von Nord Stream 2 wird ja von vielen Beobachtern als eine Art Belohnung einer mutmaßlich staatsterroristischen Sprengung von ziviler Infrastruktur angesehen. Da würde mich interessieren: Würde der Kanzler dieser Sanktionierung auch zustimmen, wenn, was laut Status quo gar nicht so unwahrscheinlich ist, diese Pipeline von US-Investoren gekauft und repariert wird? Kornelius Sie haben jetzt Ihre Frage an verschiedene Konditionen geknüpft, die ich so nicht teilen kann. Deswegen kann ich sie eigentlich nicht beantworten. Aber die Bundesregierung hat sich ja nicht zur Reparatur der Pipeline geäußert, sondern zur Inbetriebnahme. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 21.05.2025 Mehr zum Thema: Vortrag von Florian Warweg: „Nord-Stream-Terroranschlag – Wer ist verantwortlich?“ Neue Erkenntnisse zu Nordstream und Rolle der USA? – „Ich weise das mit Abscheu und Empörung zurück“ Ostseewasser sind tief – Neue Rechercheergebnisse zu den Nord-Stream-Anschlägen US-Investor will Nord Stream kaufen und 50 Millionen Euro für Hinweise zu den Tätern des Anschlags Anstehender Verkauf von Nord Stream 2 und die Vogel-Strauß-Taktik der Bundesregierung
09:25
Botschafter a. D. Varga: Bringt Wadephul den Bundespräsidenten auf die Anklagebank?
Im Schatten der Feierlichkeiten in Moskau am 9. Mai und am selben Tag in Lwiw in der Ukraine unterzeichneten 20 Außenminister der EU sowie aus der Ukraine eine Erklärung zur Einrichtung eines Sondertribunals gegen die Verantwortlichen der russischen Aggression in der Ukraine. Diese Initiative macht ein rasches Ende des Krieges noch unwahrscheinlicher. Sie t in Weiterlesen
23:16
Der Souverän und seine Volksvertreter – Plädoyer für die Demokratisierung der Demokratie
‚Hätte ich das gewusst, hätte ich die Partei X nicht gewählt…‘. So dürften viele Menschen kurz nach den Bundestagswahlen gedacht haben, als der damals designierte Bundeskanzler Friedrich Merz die Schuldenbremse entgegen seiner Wahlkampfaussagen für die Aufrüstungsfinanzierung des deutschen Militärs sturmreif schoss. Wie kann es in einer Demokratie sein, dass politische Entscheidungen bisweilen diametral den gesellschaftlichen Vorstellungen und Interessen zuwiderlaufen? Heißt Demokratie nicht Volksherrschaft? Wie t das Bild von Demokratie mit den mitunter selbstherrlichen Entscheidungen politischer Entscheider zusammen? Der entscheidende Begriff hierfür lautet: Repräsentation. Und, was kann gegen politische Selbstherrlichkeit der Gewählten unternommen werden? Auch hier lautet das entscheidende Instrument: Volksentscheid. Von Alexander Neu. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Repräsentation“ bedeutet, dass eine Person oder eine Personengruppe, gewählt in staatliche Organe (Deutscher Bundestag, Bundesregierung, Bundeskanzler), die Interessen einer größeren Gruppe (des Volks als eigentlicher Souverän) in deren Auftrag vertritt bzw. repräsentiert (siehe hier Art. 20 Abs. (2) Grundgesetz). Diese Person oder Personengruppe erhält über Wahlen den Auftrag. Damit unterscheidet sich die repräsentative Demokratie von der direkten Demokratie. In der direkten Demokratie entscheidet die Gesamtheit der Personen über ihr gemeinsames Schicksal unmittelbar. Es besteht eine direkte, auch personelle, Identität zwischen Regierenden und Regierten – zwischen Rechtsetzenden und Rechtsunterworfenen. Angesichts einer großen Personengruppe, also eines Volkes, ist diese demokratische Variante jedoch nicht alltagspraktikabel. Hinzu kommen die Menge und die Komplexität politischer Fragestellungen, die es einer ganzen Gesellschaft gar nicht erlaubt, sich damit täglich auseinanderzusetzen. Das Konzept der Repräsentation ist eine praxistaugliche Kompromisslösung, um dem Volkswillen Ausdruck zu verleihen und diesen auch politisch umzusetzen, so die dahinterstehende Idee. Es wird also eine fiktive Identität von Repräsentanten und Repräsentierten unterstellt. Was aber, wenn die gewählten Repräsentanten ganz andere Vorstellungen von dem haben, was gut für das Volk, für das Gemeinwesen ist, also die Repräsentierten – wenn also eine Entfremdung zwischen beiden Gruppierungen zu beobachten ist? Dann spricht man von einer Krise der Demokratie oder der Repräsentation, einer Repräsentationslücke etc. Eine tatsächliche fiktive Identität wäre beispielsweise durch ein imperatives Mandat (gebundenes Mandat) gesichert. Der gewählte Abgeordnete müsste so im Parlament entscheiden, wie seine Wähler es wollen. Im Grundgesetz (Artikel 38 Abs. (1) Satz 2) indessen heißt es: „Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ Sodann bleibt festzustellen, dass Friedrich Merz sich mit seinem politischen Coup innerhalb des Verfassungsrahmens bewegte; er tat es, weil er es grundgesetzlich durfte. Es war legal, wenn auch politisch nicht so sehr legitim – wie so viele politische Entscheidungen, die im Gegensatz zu vorherigen Wahlversprechen getroffen werden. Der Wähler gibt dem gewählten Abgeordneten (Erststimme) bzw. der Partei (Zweitstimme) einen politischen Blankocheck in der Hoffnung, dass dieser auch in seinem Sinne eingelöst wird. Wird er nicht im Wählersinne eingelöst, so hat der Wähler mal wieder Pech gehabt, so die politische und Verfassungsrealität. Der Wähler selbst also kann die politische Entscheidung über das Instrument des imperativen Mandats nicht steuern, da die Abgeordneten, die Regierungsvertreter nur ihrem „Gewissen unterworfen“ und somit dem Souverän gegenüber nicht weisungs- und auftragsgebunden sind. Allenfalls bleibt die Chance, nach Ablauf der Wahlperiode seine Wahlpräferenz einer anderen Partei, einem anderen Direktkandidaten zuzuteilen. Für die übrigen vier Jahre ist der Souverän erstmal raus – so zumindest die Verfassungswirklichkeit. Besonders prägnant brachte dies die damalige Außenministerin Annalena Baerbock zum Ausdruck, als sie sich zu ihrer Bereitschaft der Unterstützung der Ukraine – so lange, wie es nötig sei – äußerte und mit dem Halbsatz ergänzte: „egal, was meine deutschen Wähler denken“. Legal, aber demokratietheoretisch sehr fragwürdig, wenn nicht gar unverschämt – wird der Wähler, der zugleich Steuerzahler ist und alle politischen Entscheidungen mit seinen Steuern finanzieren muss, doch zur Melkkuh degradiert. Die Steuergelder, die der Souverän zahlt, werden der Regierung zum guten Regieren mithin zum Wohle des Gemeinwohls treuhänderisch anvertraut. Nutzt die Regierung das anvertraute Geld ohne Rücksichtnahme auf den Willen des Steuerzahlers/Souveräns – beispielsweise ausgedrückt durch Umfragen –, so wird der Boden zur Entfremdung zwischen Regierten und Regierenden bereitet. Der sogenannte „empirische Volkswille“ verliert zunehmend an Bedeutung, während der „hypothetische Volkswille“ die Oberhand gewinnt. Empirischer Volkswille versus hypothetischer Volkswille Was unterscheidet beide Formen des Volkswillens? Der „empirische Volkswille“ ist der Volkswille, der durch Umfragen und andere Formen öffentlicher Meinungsfeststellungen zur Grundlage politischer Entscheidungen in einer repräsentativen Demokratie gemacht wird. Tatsächlich leidet das Konzept des „empirischen Volkswillens“ daran, dass es kaum einen messbaren einheitlichen Volkswillen gibt, zumal in einer stark ausdifferenzierten postmaterialistischen Gesellschaft. Bis auf wenige Themen, wie vielleicht der Friedensfrage, geht es um Mehrheits- und Minderheitenmeinungen. Politische Parteien und deren Vertreter, die sich stärker als andere dem „empirischen Volkswillen“ sowie auch sprachlich dem Volke annähern, werden häufig abwertend als Populisten bezeichnet. Der Begriff „Populismus“ selbst wird gerne von den Vertretern des „hypothetischen Volkswillens“ verwendet, um die „Populisten“ zu diffamieren. Dabei merken sie gar nicht, dass sie sich genau dann selbst elitär und abgehoben verhalten. Jedenfalls ist die fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden im Konzept des „empirischen Volkswillens“ im Vergleich zum „hypothetischen Volkswillen“ höher. Denn der „hypothetische Volkswille“ bedeutet, dass die gewählten Abgeordneten und die indirekt gewählte Regierung schon wissen, was das Beste fürs Volk ist, selbst dann, wenn die öffentliche Meinung eine ganz andere Meinung ist. Die oben zitierte Aussage von Annalena Baerbock ist daher ein Glanzstück eines politisch-demokratischen Verständnisses im Sinne des „hypothetischen Volkswillens“. Die ohnehin fiktive Identität zwischen Regierten und Regierenden tendiert gegen null. Verfassungsrealität versus Verfassungstheorie Das Grundgesetz selbst ist durchaus offener, was die Frage zur politischen Partizipation des wählenden Staatsbürgers, des Souveräns angeht. So erhebt Artikel 20 Abs. (2) zunächst den Staatsbürger zum Souverän: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Im nachfolgenden Satz heißt es: „Sie [Die Staatsgewalt, A. Neu] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Hier sind die beiden Begriffe „Wahlen“ und „Abstimmungen“ interessant. Mit „Wahlen“ sind unzweifelhaft die Bundestagswahlen gemeint. Was aber ist mit „Abstimmung“ gemeint? Ist damit eine direkte politische Entscheidung des Souveräns, also Volksentscheide gemeint? Ja, genau das ist damit gemeint. Ergänzt wird diese Annahme durch einen weiteren Verfassungsartikel, nämlich Artikel 21 GG: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Mitwirkung bedeutet eben kein Wirkungsmonopol der Parteien. Somit wird auch hier die Möglichkeit von Volksentscheidungen implizit eröffnet. Und in Artikel 29 („Neugliederung des Bundesgebietes“) wird der Begriff des „Volksentscheids“ explizit sowie Art. 146 („Geltungsdauer des Grundgesetzes“) implizit verwendet. Kurzum: Das Grundgesetz selbst eröffnet die Möglichkeit von Volksentscheiden – zumindest in den beiden Fällen (Art. 29 und 146), aber auch durch die offene Formulierung der Artikel 20 („Abstimmung“) und 21 (Mitwirkung). Dass die Verfassungsrealität sich auf eine Parteiendemokratie/Parteienstaat hin verengt, bedeutet hingegen nicht, dass die Verfassungstheorie nicht auch andere Optionen beinhaltet. Volksentscheide als Korrektive? Die repräsentative Demokratie ist in einem modernen Staatsgebilde angesichts der Komplexität zu klärender Fragen und Regularien (Gesetze) und deren Menge sicherlich die geeignetere Form der Demokratie. Die direkte Demokratie mag in den antiken Stadtstaaten Athen und Sparta funktioniert haben, deren Regelungskomplexität und -menge überschaubar gewesen sein mag. In modernen Staaten hingegen ist es nicht praktikabel. Aber die rein repräsentative Form der Demokratie stößt eben selbst auch an ihre Grenzen, nämlich dann, wenn Zweifel an der Demokratie laut werden, weil das Konzept des hypothetischen Volkswillens die fiktive Identität zwischen Regierenden und Regierten ad absurdum führt. Wenn politische Entscheidungen gewählter Volksvertreter in Qualität und Quantität an den Interessen eines Staatsvolkes (scheinbar) vorbeigehen oder sich gar in einen Widerspruch begeben; wenn der Staat von den Parteien zu ihrem Staat, zum reinen Parteienstaat degradiert wird und sich Parteien am Staat bedienen; wenn beispielsweise sogenannte NGOs mit Steuergeldern des Souveräns finanziert/alimentiert werden, um als sogenannte „Zivilgesellschaft“ einen engen Diskursrahmen unter Nutzung einer scheinbar moralisch fundierten „Political Correctness“ zu schaffen; wenn Bürger/Steuer- und GEZ-Zahler mit ihrem eigenen Geld durch betreutes Denken zu Konformismus statt zu kritischen Staatsbürgern erzogen werden sollen; wenn die politische Klasse also nicht nur zu wissen glaubt, was gut und richtig fürs Volk ist („hypothetischer Volkswille“), und sich daher über den „empirischen Volkswillen“ hinwegsetzt, sondern vielmehr noch den „empirischen Volkswillen“ selbst von oben zu formieren versucht; wenn Kritik an der Regierung bereits als Kritik am Staat diffamiert wird, wenn also die politische Klasse sich selbst als Staat denn als Volksvertreter versteht, dann ist das Erfordernis von Korrekturen naheliegend. Volksentscheide sind eine interessante Form, den in eine Vertrauenskrise fahrenden Willensbildungsprozess der reinen repräsentativen Demokratie zu beleben. Volksentscheide sollen und können nicht die repräsentative Demokratie aus den oben genannten Gründen ersetzen. Sie sollen aber potenzielle Fehlentscheidungen der repräsentativen Demokratie korrigieren können. Sie sollen auch die Abgeordneten des Parlaments unter Druck setzen, Entscheidungen zu treffen, die den Interessen der Bevölkerung dienlich sind und nicht den Interessen möglicherweise ideologiegetriebener politischer Eliten. Sie sollen den formal politisch mündigen Bürger tatsächlich befähigen, politisch mündig zu sein, statt ihn auf den Status des Wählers faktisch zu reduzieren. Auch die Außen- und Sicherheitspolitik muss demokratisiert werden: Wichtige Fragen wie Rüstungsexporte, Bündnisoptionen oder die Entscheidung von Krieg und Frieden sollten nicht einer politischen Elite allein überlassen werden. Denn die Rechnungen für falsche Entscheidungen der politischen Elite zahlen diese am wenigsten und die Bürger im Zweifel am meisten. Wenn der neue Bundeskanzler die Bundeswehr zur „stärksten konventionellen Armee Europas“ machen will, wie verkündet, so darf eine solche sicherheits- und finanzpolitische Entscheidung nicht allein den gewählten Abgeordneten und schon gar nicht einer mittelbar gewählten Bundesregierung überlassen werden. Fragen des sicherheitspolitischen Mehrwertes oder gar die Gefahren des Rüstungswettlaufs, der Eskalation, der enormen finanziellen Kosten sowie die Einsparungen an anderen Stellen gehören gesellschaftlich debattiert und durch einen Volksentscheid geklärt und nicht par ordre de mufti entschieden. Und die Argumente gegen direktdemokratische Partizipation, ja ich kenne sie, und sie überzeugen mich nicht. Sie sind teilweise sehr konstruiert, ja bisweilen einfach wahrheitswidrig. Beispielsweise der Verweis auf die Todesstrafe, die dann wahrscheinlich wieder eingeführt würde, obschon sie den europäischen Werten widerspreche. Oder der Verweis auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der damit einhergehenden Einführung ihrer Diktatur. Nicht minder der Verweis auf die mangelnde Kompetenz der Gesellschaft, schwierige Themen adäquat zu beurteilen. Meine Replik auf derartige Nebelkerzen: Die Todesstrafe ist explizit grundgesetzlich verboten (Artikel 102 Grundgesetz). Und Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes verweisen im weiteren Sinne auf ein Verbot der Todesstrafe angesichts der Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie das Recht auf Leben. Artikel 1 unterliegt sogar der Ewigkeitsklausel, darf also nicht angetastet werden. Somit wäre die Wiedereinführung der Todesstrafe nach dem Grundgesetz gar nicht möglich. Und selbstverständlich könnten Ergebnisse von Volksentscheiden ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht auf Prüfung ihrer Verfassungskonformität hin vorgelegt werden. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Tatsächlich hat die NSDAP die Macht in Deutschland nicht per Volksentscheid, sondern durch demokratische Wahlen – also repräsentativ – errungen. Und der Schritt zur endgültigen Diktatur wurde auch im Deutschen Reichstag mit dem sogenannten Ermächtigungsgesetz entschieden. Der Reichstag hat sich mit entsprechender Mehrheit selbst entmündigt. Die SPD-Fraktion stimmte als einzige Fraktion dagegen, die Abgeordneten der KPD wurden zuvor bereits verhaftet oder befanden sich auf der Flucht vor ihrer Verfolgung. Beide Schritte, die Machtergreifung der NSDAP wie auch der nachfolgende Schritt zur Diktatur, verliefen im Rahmen der repräsentativen Demokratie und eben nicht direktdemokratisch. Und dennoch spricht niemand davon, angesichts der NS-Machtergreifung via Reichstagswahlen und Abstimmung im Reichstag die repräsentativ-parlamentarische Demokratie abzuschaffen. Tatsächlich sind viele politische Fragestellungen hoch komplex und zeitraubend in der Beantwortung. Und nicht jede politische Problematik bzw. Frage sollte direktdemokratisch geklärt werden, weil dies unrealistisch wäre. Fragen von wirklich nationaler Bedeutung, von hoher Relevanz, von Systemrelevanz (beispielsweise, wer alles in die Rentenkasse einzahlen sollte) für die Gesellschaft sollten jedoch vom Souverän direkt entschieden werden können. Dem können und sollten mitunter monatelange moderierte Diskussionen vorausgehen. Und es sei mir etwas Polemik erlaubt: In meiner Zeit als Abgeordneter im Deutschen Bundestag, im Verteidigungsausschuss als Obmann sitzend, habe ich genügend mäßig begabte Kollegen erlebt, die definitiv nicht in der Lage waren, die Komplexität des jeweiligen Themas wirklich zu erfassen. Sie folgten blind der Vorgabe ihrer Sprecher und der Fraktionsvorsitzenden – reduzierten sich also auf die Mehrheitsbeschaffung. Aber warum wird so vehement gegen das partizipative Instrument des Volksentscheids nahezu parteiübergreifend Stimmung gemacht? Die Antwort ist so einfach wie banal: Die politische Klasse – formiert in diverse Parteien – hat keinerlei Interesse, ihre Macht mit dem eigentlichen Souverän zu teilen, weder hinsichtlich der politischen Themen und Inhalte noch organisatorisch. Titelbild: Shutterstock / Rafael de Gracia
16:27
Hauke Ritz: Deutschland am Scheideweg
Den USA in ihrem „neuen Realismus“ folgen und sich gleichzeitig von deren hegemonialen Anspruch befreien: Dies betrifft auch jenes postmoderne Kulturkonzept, das auf die Bedingungen des Kalten Krieges zurückgeht. Gerade unsere humanistischen geistigen Traditionen, so Hauke Ritz in seinem Buch „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“, könnten Brücken sein für eine künftige Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent. Von Irmtraud Gutschke. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. „Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt“: Einen zugkräftigen Titel hat der Westend Verlag diesem Band des Philosophen und Friedensforschers Hauke Ritz gegeben. Zumal man sofort widersprechen möchte: Auch wenn Kanzler Merz sich wie ein Gernegroß aufführt, was hängt denn momentan noch von Deutschland ab? Der Weltfrieden insofern, weil das Kriegsgeschrei, die Lieferung von Taurus-Raketen und anderen Waffen, die direkt auf Russland zielen, nicht nur unser Land in Gefahr bringen würden. Dass wir uns derzeit zumindest in einem Kalten Krieg befinden, kann niemand verneinen, der das unwürdige politische Theater um den 80. Jahrestag der Befreiung miterlebt hat, den skandalösen Versuch, Vertreter Russlands von den Feierlichkeiten auszuschließen. Die Frage ist wirklich, wie es da je wieder zu gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland kommen soll. Hauke Ritz, 1975 in Kiel geboren, wurde 2013 an der FU Berlin in Philosophie promoviert. Seine Dissertation hatte das Thema „Der Kampf um die Deutung der Neuzeit. Die geschichtsphilosophische Diskussion in Deutschland vom Ersten Weltkrieg bis zum Mauerfall“. Zu Forschungszwecken hat er seit 2014 regelmäßige Russland-Reisen unternommen und unterrichtete an der Universität Gießen, der Lomonossow-Universität Moskau, der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität sowie der Universität in Belgorod. Zuletzt sei er für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) in Moskau tätig gewesen. So die Information des Westend Verlages, wo Hauke Ritz zusammen mit Ulrike Guérot 2022 das viel beachtete Buch „Endspiel Europa“ veröffentlicht hat und wo von Guérot in diesen Tagen ein neues Buch erschienen ist: „Zeitenwenden. Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart“, das ebenfalls bald hier besprochen werden soll. Bei Ritz‘ neuem Band handelt es sich um eine Sammlung von zehn Aufsätzen, die nicht erst heute geschrieben wurden, sich aber aufschlussreich mit heutigen Problemen beschäftigen. Zum Teil wurden sie überarbeitet, auf jeden Fall aber im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen ausgewählt. Der weltpolitische Wandel, den die USA unter Donald Trump eingeleitet haben, ist in seinen Resultaten noch nicht wirklich absehbar. Aber deutlich sichtbar ist eine Verschiebung von Kräfteverhältnissen in der Welt, welche gerade Westeuropa vor ungeahnte Herausforderungen stellt. Ein altes Kriegsziel deutscher Machthaber In einer Situation allgemeiner Unsicherheit setzt Hauke Ritz auf nüchterne Einschätzungen. „Die Abtrennung der Ukraine von Russland war ein altes Kriegsziel des Deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg, das im erzwungenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk gewaltsam durchgesetzt wurde. Das ‚Dritte Reich‘ aktivierte dieses Kriegsziel erneut und weitete es noch aus, indem es neben der Aneignung der Ukraine auch noch die Vernichtung eines beträchtlichen Teils aller Russen anstrebte. Denn Hitlers Feldzug gegen die Sowjetunion war offen als rassenideologischer Vernichtungskrieg konzipiert.“[1] Und heute kommt seitens deutscher Politik schon wieder die Forderung, Russland einzudämmen. „Wenn Russland gewinnt“ nannte Carlo Masala sein Horrorszenario. [2] Und der einstige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verstieg sich gar zu der Aussage, „dass ein russischer Sieg schlimmer wäre als eine fortgesetzte Eskalation, die zu einem realen Weltkrieg mit Milliarden von Toten führen kann“. [3] Woher kommt diese Panik? Aus der Gehirnwäsche im Kalten Krieg? Oder mehr noch aus der Angst vor dem Verlust der eigenen Position, weil man nicht in der Lage ist, den weltpolitischen Veränderungen Rechnung zu tragen? Neue Wirklichkeit einer multipolaren Weltordnung Was andere Autoren bereits betonten: In der Ukraine wird ein Weltordnungskonflikt ausgefochten, in dem es dem Westen um die Eindämmung Russlands geht. Die von den USA dominierte unipolare Weltordnung wurde auf Dauer zu kostspielig. Die Außen- und Innenpolitik unter Trump sind eine Reaktion darauf, wobei es wohl noch manche Rückzugsgefechte geben wird, denn im Schatten des Ukrainekonflikts sind unumkehrbare Veränderungen in der Welt vor sich gegangen, neue multipolare Machtzentren entstanden. Wie lange sich der Stellvertreterkrieg in der Ukraine auch noch hinziehen mag – man hofft ja, er ginge schnell zu Ende –, die Bündnisse zwischen Russland, China, Iran, Indien, Nordkorea, Vietnam und immer mehr Ländern des globalen Südens und Lateinamerikas existieren und festigen sich. Und der Dollar sei dabei, seine Rolle als Weltwährung zu verlieren. [4] „Russland hat sowohl geografisch als auch kulturell eine sehr gute Position in dieser neuen Weltordnung“, meint Hauke Ritz. Die USA würden irgendwann „mehr eine abgelegene Insel sein. Entscheidend ist aber nicht die geografische Ordnung, sondern die zivilisatorischen Inhalte, die dann ins Zentrum rücken.“ [5] Da sieht der Autor gerade für Deutschland Chancen, zu Gunsten einer Friedensordnung auf dem eurasischen Kontinent wirksam zu werden. Das aber würde ein Umdenken in vielerlei Hinsicht bedeuten. Pop- und Lifestylekultur als westliche Soft Power „Besitzt der gegenwärtige Konflikt mit Russland eine kulturelle Dimension?“ Dieser bisher zu wenig thematisierten Frage widmet Hauke Ritz mehrere Texte. Nicht allein durch die skandalöse Ausgrenzung russischer Kultur in der deutschen Öffentlichkeit, es ist ein geistiges Kampffeld entstanden, was kulturelle Werte betrifft. Das hat gegenseitiges Unverständnis zur Folge und, mehr noch, eine Verhärtung von Positionen. Hauke Ritz: „Schon längere Zeit vor Beginn der Ukraine-Krise häuften sich die Meinungsverschiedenheiten zu kulturellen Fragen. Sowohl die Auseinandersetzung um die Punk-Band ‚Pussy Riot‘ als auch die Berichterstattung über die Rechte von Homosexuellen im Vorfeld der Olympischen Spiele in Sotschi“ wurden seitens des Westens zur Anklage Russlands genutzt, angeblich fortschrittliche Werte nicht zu teilen. [6] In der Folge haben sich die Positionen in Russland immer stärker zu einem Antiliberalismus verfestigt, der die politischen Konflikte in Europa spiegelt, aber ebenso auch dem Weltgefühl weiter Teile der Bevölkerung entspricht. Wir können das rückständig nennen, aber auch große Teile der deutschen Bevölkerung, zumal im Osten, können mit neoliberaler Identitätspolitik inzwischen auch nichts mehr anfangen. „Traditionelle Werte“ – das ist in Russland zum Kampfbegriff gegen den westlichen Liberalismus geworden. Wobei es solche verbindenden Werte einer paneuropäischen Kultur ja gab und zu Teilen immer noch gibt. Dazu zählt Hauke Ritz die Kultur der Arbeiterbewegung mit ihren politischen Utopien und ihren sozialen Gerechtigkeitsforderungen ebenso wie die Kultur des Bürgertums mit ihrer humanistischen Bildung, ihrem Geschichtsbewusstsein und ihrer Unterscheidung zwischen „hoher und niedriger“ Kunst. Soll man es Fortschritt nennen, dass dieses Wertgefüge in die Vergangenheit abgedrängt worden ist? Soll man das Orientierungsvakuum in den heutigen westlichen Gesellschaften als Ausdruck von Freiheit bezeichnen, weil jeder sich aussuchen kann, was er oder sie glaubt, ja wer er oder sie gerade zu sein beliebt? Wenn einem bewusst ist, wie immens die Möglichkeiten von Manipulation und Konstruktion angeblicher Wahrheiten geworden sind, führt das zur Verneinung alles Glaubwürdigen, ja auch Verbindenden. Für eine bessere Welt einzutreten, bringt immer weniger Menschen zusammen. Hauke Ritz meint nun, dass die Etablierung jener Pop- und Lifestylekultur, die heute im Westen zu einer beinahe unhinterfragten Normalität geworden ist, nicht allein nur aus sich selbst heraus geschah, sondern dass dies mit einem politischen Willen verbunden war. Dabei geht er besonders auch auf die Untersuchungen von Francis Stonor Saunders ein („Wer die Zeche zahlt… Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg“). Der „Congress for Cultural Freedom, 1950 gegründet, hatte sein zentrales Büro zunächst in Westberlin, dann in Paris. In 35 verschiedenen Ländern gab es Niederlassungen. Heute weiß man von mindestens 170 Stiftungen, die den Transfer von Mitteln ermöglicht haben. Nachdem die geheimdienstliche Finanzierung 1966 bekannt geworden war, wurde der CCR zwar 1969 aufgelöst. Aber das informelle Netzwerk von Kulturschaffenden und Zeitschriften blieb vorhanden, und die Neue Linke begann sich mit ihrem „Diversity“-Projekt mit dem Neoliberalismus zu verschwistern.” [7] Zweifellos reagierte die Pop-Kultur auf Massenbedürfnisse. Gleichzeitig aber wurde sie zur Softpower, um „Westeuropa für amerikanische Kultureinflüsse zu öffnen und zum anderen die Evolution der politischen Linken von den Hauptwidersprüchen des Kapitalismus auf seine Nebenwidersprüche umzulenken.“ [8] „Die Verschiebung der Identität linken Selbstverständnisses … weg von den Fragen des Eigentums, des Klassenkampfes und der Kritik am Imperialismus, hin zu einem postmodernen Wertesystem, das auf Menschenrechten, Minderheitenrechten, Umweltfragen und Lebensstilthemen basiert“ [9], ist inzwischen so wirkmächtig geworden, dass Fragen, Zweifel, Gegenmeinungen kaum mehr laut werden können. Krise des Westens: Chance für einen neuen Humanismus? Innen- wie außenpolitische Konflikte haben also durchaus eine kulturelle Dimension, die man im Auge behalten sollte, wenn man auf Lösungen bedacht ist. In dem Maße, wie der Plan einer unipolaren Weltordnung scheitert, meint der Autor, würde Europa eine Wandlung bevorstehen – selbstbewusster hin zu jenen Werten, mit denen wir in den letzten 500 Jahren eine Weltkultur prägten, und gleichzeitig zu mehr Respekt, was die Vielfalt anderer Lebensweisen betrifft. Dabei sieht Hauke Ritz zwei gefährliche Trends, die einander gegenseitig verstärken: den technologischen Trend, der zum ersten Mal in der Geschichte einen nahezu perfekten Überwachungsstaat ermöglicht, und den Trend zu einer immer größeren Vermögenskonzentration. Dagegen eine notwendige Besinnung auf die Werte humanistischer Kultur in Stellung bringen zu wollen, erscheint auf den ersten Blick vermessen. Doch geht der Autor zu Recht davon aus, dass diese Werte in vielen Menschen lebendig sind und in diesen turbulenten Zeiten Halt versprechen. Sich auf verbindende Werte der europäischen Kultur zu besinnen, Hauke Ritz ist nicht der Erste, der solcher Hoffnung Ausdruck gibt. Bei Andreas Reckwitz klang sie im Bilde eines eingehegten Liberalismus an.[10] Ingolfur Blühdorn sprach von einem „Weg in eine andere Moderne“. Was „diskursive Räume öffnen könne“, in denen das Bekenntnis zu Werten, die „in der Spätmoderne zunehmend verabschiedet werden – Inklusion in ein gutes Leben für alle in ökologischen Grenzen, Ethik des Miteinander, Demokratie, Verantwortlichkeiten“ –, weiter gepflegt werden kann. Wobei er auch die Gefahr sieht, dass es sich dabei nur um Simulationstechniken handelt, „während realgesellschaftlich die entgegengesetzte Logik gezielt forciert wird“. [11] Aus seiner genauen Russland-Kenntnis heraus weiß Hauke Ritz um den hohen Stellenwert von Kunst und Kultur dort, der immer auch den Blick auf Europa einschloss. Jahrhundertelang war Russland, allen Konflikten zum Trotz, von engen kulturellen Beziehungen zu Deutschland geprägt. Fast kommt es einem Wunder gleich, dass die Sowjetunion, die für den Sieg über den Hitlerfaschismus mit mindestens 27 Millionen Toten den höchsten Blutzoll bezahlte, sich nicht von der deutschen Kultur abkehrte, sondern hochgebildete Kulturoffiziere, meist Germanisten, schickte, um diese zu schützen. Daniil Granin und Lew Kopelew können für viele sowjetische Schriftsteller und Intellektuelle stehen, die damals Brücken zu jenem Land gebaut haben, gegen das sie im Krieg gekämpft hatten. Diese Brücken sind gerade im Osten Deutschlands nicht nur vorhanden, sondern auch weiterhin begehbar. Die politisch proklamierte Russophobie stößt dort auf Unverständnis, ja auf Ablehnung, weil man sich der gefährlichen Folgen bewusst ist. Die Erfahrung in zwei Gesellschaftssystemen hat zu einer geradezu selbstverständlichen Widerstandskraft geführt, was ideologische Manipulation betrifft. „Es ist der entscheidende Unterschied zwischen der Bundesrepublik und der DDR, dass die Bürger in der DDR wussten, dass sie politisch belogen wurden, während die meisten in der (alten) Bundesrepublik Deutschland dachten und denken, das könne ihnen nie ieren“, stellt Ulrike Guérot fest, die den Osten jetzt erst kennenlernte. „Der deutsche Osten scheint mir heute die Herzkammer der Republik zu sein… da, wo der Sozialismus – wie schlecht auch immer er war – noch residuale Formen von Gemeinschaft und sozialer Sorge hinterlassen hat …“ [12]; und ein Kulturverständnis, so ließe sich hinzufügen, das stärker humanistischen Traditionen verbunden ist und mit der neoliberalen Postmoderne wenig anfangen kann. Realitätsverweigerung führt in die Sackgasse Es ist plausibel, dass Verhandlungen zwischen den USA und Russland im Gange sind, ohne dass die Ukraine und die EU mit am Tisch sitzen. Es war und ist ein Stellvertreterkrieg, das wird von Trump nicht mehr geleugnet. Die Ukraine sieht sich getäuscht und ausgebootet, schließlich wurde seitens des Westens versprochen, dass ein Sieg ohne Gebietseinbußen zu haben ist. Aber die werden unumgänglich sein. Vom zweistündigen Telefonat zwischen Trump und Putin am Montag über eine gesicherte Verbindung erfährt man nur wenige Details. Dass Putin die Bereitschaft unterstrich, an einem „Memorandum“ mit der Ukraine zu arbeiten, das zu einer Friedenslösung führt und einen Waffenstillstand einschließt, kann Trump als Erfolg verbuchen. Aber ein Friedensvertrag ist nur durch schwierige Verhandlungen zu haben und nicht dadurch, dass Westeuropa den „Druck“ auf Moskau erhöht, wie Kanzler Merz wieder einmal verlautbarte. Wie derlei Realitätsverweigerung in eine Sackgasse führt, kann einem in der Tat Angst machen. Insofern hängt der Weltfrieden tatsächlich von Deutschland ab. Wir können uns um eine Russland einbeziehende Friedensordnung in Europa bemühen, die mit der Charta von Paris schließlich schon einmal angedacht worden ist, oder uns dem Narzissmus unseres Kanzlers beugen, die Bundeswehr zu Europas „stärkster Armee“ zu machen. [13] – mit der Aussicht, sie dann auch gen Osten einzusetzen. Chancen für Europa Wir leben mit Russland auf einem Kontinent. Sich auf Dauer voneinander abzuschotten, sich gar feindlich zu verhalten, wäre von Schaden für beide Seiten. Für Russland weniger, wo man sich gezwungenermaßen inzwischen stärker nach Osten und nach Süden orientierte. Für Deutschland schon. Insofern hat Hauke Ritz ein Buch geschrieben, das in die Zukunft weist. „Der wirtschaftliche Wind in den Segeln, der Europa von Westen nach Osten zieht, kann auch zu der Kraft werden, die Europa helfen wird, sich aus dem gegenwärtigen Abwärtssog des kulturellen Nihilismus zu befreien und die Schätze seines vergangenen intellektuellen Lebens neu zu entdecken und wiederzubeleben.“ [14] Wir haben uns in eine Ecke manövriert, aus der wir herausfinden müssen. „Europa muss die paradoxe Bewegung vollziehen, einerseits den neuen Realismus aus den USA zu übernehmen und sich andererseits gerade aufgrund dieses Realismus von den USA zu lösen, um zu einem eigenständigen Pol in der multipolaren Welt zu werden.“ [15] Nicht durch Aufrüstung, durch neue Großmachtgelüste, mit der wir unsere Vernichtung riskieren, sondern als Friedensmacht. Hauke Ritz: Warum der Weltfrieden von Deutschland abhängt. Neu-Isenburg 2025, Westend Verlag, Taschenbuch, 224 Seiten, ISBN 978-386489491624, Euro. Titelbild: Tricreative project / Shutterstock [«1] Hauke Ritz, S. 157 [«2] Carlo Masala: Wenn Russland gewinnt. C. H. Beck 2025, 119 S., br., 15 Euro. [«3] Hauke Ritz, S. 158 [«4] finanzmarktwelt.de/warum-sich-der-weltweite-trend-weg-vom-dollar-beschleunigt-348379/ [«5] Hauke Ritz, S. 185 [«6] ebenda, S. 15 [«7] ebenda, S. 113 [«8] ebenda, S. 79 [«9] ebenda, S. 39 [«10] Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Edition Suhrkamp 2019, 306 S., br., 18 Euro. [«11] Ingolfur Blühdorn: Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Edition Suhrkamp 2024, 284 S., br., 20 Euro. [«12] Ulrike Guérot: Zeitenwenden. Skizzen zur geistigen Situation der Gegenwart. Westend Verlag 2025, 223 S., geb., 24 Euro. [«13] bild.de/politik/inland/merz-plan-kann-die-bundeswehr-europas-staerkste-armee-werden-6827364da6a34a0a03285a0e [«14] Hauke Ritz, S. 51 [«15] ebenda, S. 212
18:12
„Wir sind keine Bewegung, wir sind eine Partei“
Alexander King ist Gründungsmitglied des BSW und Landesvorsitzender der Partei in Berlin. Seit seinem Bruch mit der Linksfraktion sitzt er als fraktionsloser Einzelabgeordneter im Berliner Landesparlament. Im Interview mit Rainer Balcerowiak skizziert King die aktuelle Situation des BSW und die anstehenden Aufgaben. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Rainer Balcerowiak: Das BSW ist immer noch damit beschäftigt, den Schock des verten Einzugs in den Bundestag zu verarbeiten. Wo steht denn die Partei jetzt? Alexander King: Sie steht jetzt vor allem am Anfang, jedenfalls was den Strukturaufbau betrifft. Bislang waren wir quasi permanent in Wahlkämpfen. Jetzt ist wichtig, dass wir Gebietsverbände gründen und sehr viele neue Mitglieder aufnehmen. Und was den Schock betrifft: Natürlich wäre die Stimmung besser, wenn wir es geschafft hätten. Aber ein Schock wäre es gewesen, wenn wir jetzt wirklich nur drei Prozent, wie manche Umfrageinstitute uns vorausgesagt haben, erreicht hätten. Das Ergebnis von fünf Prozent war für mich jedenfalls kein Schock. Das BSW hat seit seiner Gründung in starkem Maße von der Beliebtheit und der Medienpräsenz seiner Gründerin und Bundestagsgruppenvorsitzenden Sahra Wagenknecht gelebt. Doch beides ist seit der verlorenen Wahl zurückgegangen. Die von ihr bzw. in ihrem Namen verbreiteten BSW-Statements wirken seitdem manchmal redundant, ohne nennenswerte Außenwirkung. Wie kann das BSW medial und politisch wieder in die Offensive kommen? Also ich finde nicht, dass ihre Statements redundant und ohne Außenwirkung sind. Besonders wenn es um die Ukraine-Politik Deutschlands geht, wird Sahra Wagenknecht nach wie vor in vielen Medien teilweise ausführlich zitiert. Aber es ist natürlich schwieriger geworden. Medienarbeit funktioniert sehr stark auch über die parlamentarische Arbeit. Das merke ich auch in Berlin. Ich komme ja nicht als BSW-Landesvorsitzender in die Medien, sondern vor allem als Abgeordneter. Die Kapazitäten, die wir im parlamentarischen Bereich haben, müssen wir stärker nutzen. Wir haben nicht nur eine Bundestagsgruppe verloren, sondern wir haben eine Gruppe im Europaparlament dazugewonnen, und wir haben drei Fraktionen in Landesparlamenten. Fabio De Masi als EU-Abgeordneter macht das sehr gut, er ist medial sehr präsent, aber wir haben noch viele andere Leute, die wir ein bisschen nach vorne bringen müssen. In der Aufarbeitung der Wahlschlappe bei der Bundestagswahl werden neben der organisatorischen Schwäche oft die anhaltenden Querelen in Thüringen genannt. Das hat sicherlich eine Rolle gespielt, schließlich hat das BSW nach der Koalitionsbildung in Thüringen bei der Bundestagswahl 66.000 Stimmen im Vergleich zur Landtagswahl verloren. Aber wenig hört man über die Bedeutung des Abstimmungsverhaltens der BSW-Gruppe im Bundestag Ende Januar bei den Anträgen der CDU zur Migrationspolitik. Will man darüber jetzt nicht mehr reden? Bei dem Entschließungsantrag der CDU haben wir uns enthalten, und dem Gesetzentwurf der CDU haben wir zugestimmt, weil es unserer politischen Programmatik entsprach. Bestandteile dieses Gesetzentwurfs, der damals so skandalisiert wurde, sind heute Teil des Koalitionsvertrags. Es waren ja keine vollkommen abwegigen Forderungen, die da drinstanden. Da ging es um Kompetenzen für die Bundespolizei und um das Aufenthaltsgesetz mit der Zielsetzung, dass man eben Zuwanderung nicht nur kontrollieren, sondern auch begrenzen möchte. Ich bin jedenfalls nicht der Meinung, dass uns das stark geschadet hat, weil sich das überhaupt nicht abbildet, wenn man die Umfragen betrachtet. Wir standen nach den Abstimmungen nicht schlechter da als in den Wochen davor. Eher im Gegenteil: Je näher die Wahlen rückten, desto mehr sind ja die meisten Umfrageinstitute wieder an die Fünf-Prozent-Hürde gerückt, auch solche, die uns bis dahin teilweise nur noch bei drei Prozent gesehen haben. Also jenseits von subjektiven Erzählungen über Menschen, die sich nach diesen Abstimmungen von uns abgewendet haben, lässt sich nicht belegen, dass uns das geschadet hat. Und dieser Gesetzentwurf ist ja nicht vom Himmel gefallen, der war schon seit Herbst 2024 im Verfahren, in den Ausschüssen, und da haben wir auch zugestimmt. Wie hätte das denn ausgesehen, wenn wir dann plötzlich aus Opportunismus unser Abstimmungsverhalten verändert hätten? Das hätte unserer Glaubwürdigkeit sehr stark geschadet. Die Rückmeldungen, die wir nach den Abstimmungen erhalten haben, waren sehr unterschiedlich. Einige hatten den Tenor, deswegen kann ich euch nicht mehr wählen. Aber mehrheitlich war der Tenor, wenn ihr nicht zugestimmt hättet, dann hätten wir euch nicht mehr gewählt. Insofern war es für uns eine schwierige Situation, in der wir nichts gewinnen konnten. Die in der Anfangszeit nachvollziehbare, sehr restriktive Aufnahmepraxis für Mitglieder hat sich nicht nur im Wahlkampf als Hemmschuh für das BSW entwickelt. Die Partei ist offensichtlich nicht umfassend kampagnenfähig. War und ist das BSW durch seine starke Fixierung auf parlamentarische Repräsentanz überhaupt in der Lage, sich auch als starke außerparlamentarische Opposition zu formieren und breite politische Bewegungen zu initiieren? Die restriktive Aufnahmepolitik war gut begründet und auch sinnvoll am Anfang. Hätte es die vorgezogene Bundestagswahl nicht gegeben, dann hätten wir bis zum regulären Termin natürlich viel mehr Mitglieder gehabt und auch viel mehr Unterstützer, die quasi die Aufnahme als Mitglied vor Augen gehabt hätten. So hatten wir wirklich zu wenig Manpower. Denn der Wahlkampf findet zwar auch im Netz, aber im Wesentlichen auch auf der Straße statt. Und bei vielen Unterstützern, die nach mehreren vorangegangenen Wahlkämpfen immer noch keine Mitglieder waren, sank natürlich auch die Motivation. Deswegen ist uns das ein bisschen auf die Füße gefallen. Es war trotzdem richtig, weil wenn wir von Anfang an die Tore aufgemacht hätten, dann gäbe es uns vielleicht schon gar nicht mehr. Aber jetzt muss es eine Änderung geben, und die gibt es auch. Das Ziel ist, alle Unterstützer, die das wollen, aufzunehmen, wobei wir natürlich weiterhin darauf achten, absolute Querulanten fernzuhalten. Nicht nur für Wahlkämpfe, sondern auch für außerparlamentarische Kampagnenfähigkeit braucht man viele Leute, richtig. Aber man braucht auch den Willen und die Fähigkeit der Parteispitze, sich darauf zu orientieren. Sahra Wagenknecht hat wenige Wochen vor der Wahl gesagt: „Wer nicht im Bundestag ist, ist in der deutschen Politik kein relevanter Faktor mehr.“ Klingt das nicht eher demotivierend? Eine politische Partei gründet sich, um gewählt zu werden und im Parlament eine Rolle zu spielen und eben die Interessen oder den Ärger der Wähler ins Parlament zu tragen. Aber wir müssen natürlich trotzdem auch auf der Straße sichtbar sein. Waren wir auch, etwa bei den Ostermärschen, wo wir als BSW deutlich präsent waren; oder am 8.Mai, wo unsere Kranzniederlegungen an Ehrenmalen auch medial rezipiert wurde. Am Ehrenmal am Berliner Tiergarten ging es auch um das Auftreten von ukrainischen Gruppen, mit übelster antirussischer Hetze und sogar einer NATO-Flagge. Da wurden dann z.B. die Parteivorsitzende Amira Mohammed Ali und ich im Tagesspiegel zitiert. Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass man nicht nur mit parlamentarischer Arbeit, sondern auch mit öffentlicher Präsenz Wirkung erzielen kann. Trotzdem: Wir sind keine Bewegung, wir sind eine Partei, die natürlich auch auf der Straße so gut wie es geht sichtbar sein muss – jetzt, wo wir nicht mehr im Bundestag sind, erst recht. Im kommenden Jahr stehen fünf Landtagswahlen auf dem Programm. In mehreren Landesverbänden häufen sich derzeit, aus welchen Gründen auch immer, aber Austritte; zum Beispiel in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich in Rostock, der größten Stadt, sogar die BSW-Stadtratsfraktion aufgelöst hat. Und die Landespartei ist in Umfragen von teilweise bis zu 16 Prozent inzwischen auf sechs Prozent eingebrochen. Was läuft da schief, und was muss man tun? Ich kann anderen Landesverbänden keine Tipps geben und kann auch die Situation in Meck-Pomm nicht beurteilen. Aber ich halte solche Prozesse in der Aufbauphase einer Partei, was ja ein sehr steiniger und schwieriger Weg ist, für normal und unvermeidlich. Da kommen Leute zusammen, die sich nicht kennen, die vielleicht auch unterschiedliche Vorstellungen haben von dem, was das BSW sein soll, und dann gibt es Klärungsprozesse. Manche Leute gehen dann auch wieder, manche kommen dann neu dazu und so weiter. Also da mache ich mir jetzt nicht so viele Gedanken. Das sind sozusagen Wachstumsschmerzen. Kommen wir mal zu Berlin, wo 2026 ebenfalls gewählt wird. Im Vergleich zu anderen Bundesländern hat sich das Berliner BSW bei der Bundestagswahl recht gut gehalten, auch im Vergleich zum EU-Wahlergebnis. Die Partei liegt in Umfragen dort stabil bei sieben Prozent. Dennoch scheint es im Landesverband auch ziemlich zu knirschen. Etwas zugespitzt formuliert: Wenn man sich bei bestimmten BSW-Events ein bisschen umhört, bekommt man schnell den Eindruck, dass es einigen der immer noch handverlesenen Mitglieder weniger um politische Kampagnenfähigkeit geht, sondern um die Bildung von Seilschaften im Hinblick auf künftige Mandate, Jobs und Posten. Wie erleben Sie das denn? Das will ich nicht bestreiten. Das ist leider etwas, was dem Wesen von Parteien immanent ist. Parteien haben den Daseinszweck, das politische Personal zu rekrutieren und Mandate zu vergeben. Natürlich gibt es immer Leute, denen das besonders wichtig ist. Und wir haben jetzt eine Wahl vor der Tür, da spürt man das schon, dass sich da Leute irgendwie in Positionen bringen wollen. Das beunruhigt mich jetzt nicht total, aber es darf halt nicht Überhand nehmen. Ich möchte schon, dass wir vor allem über Politik sprechen und über das, was die Bürger bewegt; und nicht so viel darüber, wer sich jetzt wie am besten in Stellung bringt für die Aufstellungen im nächsten Jahr. Öffentlich und inhaltlich einigermaßen sichtbar ist das BSW eigentlich nur bei Veranstaltungen rund um die Kernthemen Frieden und Aufrüstung – und das auch nur recht begrenzt, wie etwa beim Ostermarsch. Auch wenn Sie den als Erfolg einschätzen: Es ist doch nach wie vor so, dass jede Schwurbel-Demo „gegen Rechts“ deutlich mehr Menschen auf die Straße bringt als zum Beispiel der Ostermarsch. Da komme ich wieder zu der Frage: Ist das BSW überhaupt willens und in der Lage, sich auch als Bewegungspartei zu entwickeln? In der Aufbruchphase, das war noch vor der BSW-Gründung, kamen im Februar 2023 rund 50.000 Menschen zu einer großen Friedenskundgebung mit Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer zum Brandenburger Tor. Wo sind die denn jetzt alle? Schwierige Frage. Das war ein toller Moment, aber der lässt sich auch nicht beliebig oft wiederholen, das war ja auch ein riesiger organisatorischer Kraftakt. Das waren ja auch nicht die klassischen Demo-Teilnehmer, sondern viele Familien und Menschen aus ganz unterschiedlichen Altersklassen, ganz normale Leute. Und die haben normalerweise was anderes zu tun, als auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Bei den „Gegen Rechts“-Demos ist das ganz was anderes. Das sind gut vernetzte, hochaktive Menschen mit hoher Zeitautonomie, also privilegierte Schichten. Das ist halt eine andere Klasse, sage ich mal, die da auf die Straße geht. Aber natürlich ist es eine zentrale Aufgabe für uns und die ganze Friedensbewegung, wieder mehr Leute zu mobilisieren und vielleicht auch manchmal aus gewohnten Gleisen ein bisschen rauszufahren und zu gucken, wie man wirklich wieder breiter wird. Das BSW ist unbestritten die einzige nennenswerte politische Kraft, die konsequent gegen Krieg, Aufrüstung und Militarisierung der gesamten Gesellschaft steht. Aber reicht das wirklich aus, um zum Beispiel bei Landtagswahlen als umfassende Alternative für Vernunft und Gerechtigkeit wahrgenommen zu werden? Noch mal zu Berlin: Da brennt es an allen Ecken und Enden. Mieten, Bauen, Wohnungslosigkeit, Verkehr, Schulen, Gesundheitsversorgung, Kultur usw. Manchen BSW-Mitgliedern scheint aber zu reichen, sich mit Friedenstransparenten bei irgendwelchen Kleinkundgebungen oder am Rand größerer Veranstaltungen in Szene zu setzen, um das dann fleißig bei Facebook, X oder Instagram in entsprechenden Blasen zu verbreiten. Aber was hat das BSW denn landespolitisch zu bieten? Zum einen ist unser „Markenkern“ ja auch in der Landes- und Bezirkspolitik wichtig. Da geht es z.B. um Fragen wie Bundeswehr-Werbung an Haltestellen und Fahrzeugen der Verkehrsbetriebe. Oder es geht um die rund 200.000 russischstämmigen Bürger in Berlin, die durch diese Kriegsrhetorik an den Rand gedrängt werden. Dann geht es auch um Städtepartnerschaften und wie die von Berliner Seite betrieben werden, etwa zu Moskau, Kiew oder Tel Aviv. Das sind alles auch landespolitische Themen, die mit Friedenspolitik zu tun haben. Aber wir vernetzen uns auch in anderen Bereichen, vor allem in Bezug auf die katastrophale Wohnraumlage in Berlin. Ich mache sehr viel mit Mieterinitiativen, deren Belange ich dann auch als Anfragen in das Abgeordnetenhaus bringe. Und in den Bezirken machen das unsere Vertreter auch. Das ganze Thema Mieten/Wohnen ist für uns extrem wichtig. Ich werde im Abgeordnetenhaus auch in den Stadtentwicklungsausschuss wechseln. Verkehr ist auch ein wichtiges Thema. Wir stehen ja für eine andere Verkehrspolitik als zum Beispiel Die Linke oder die Grünen. Wir sind zwar nicht die „Autopartei“, aber auch nicht die autofeindliche Partei. Was da in einigen Teilen der Stadt mit Verpollerung von Durchgangsstraßen und Wegfall von Parkplätzen iert, sorgt für gewaltigen Unmut. Das muss natürlich für die Wahlen im Herbst 2026 alles noch genauer und konkreter gefasst werden. Es gibt politische Eckpunkte des Landesvorstands und insgesamt 15 Arbeitsgruppen zu den verschiedenen Themenbereichen, die weiter daran arbeiten. Und durch die forcierte Aufnahme neuer Mitglieder werden wir auch viel sachbezogene Expertise dazugewinnen. Welche Zielgruppen kann und will das BSW eigentlich erreichen? Während die eigentlich schon tot geglaubte Linke vor allem bei jüngeren Menschen enormen Zulauf verzeichnet und bei den Bundestagswahlen in Berlin sogar stärkste Partei wurde, hat das BSW in diesen Gruppen eher wenig Zulauf. Schräge Statements wie das von Sevim Dagdelen gegen die Entkriminalisierung des Cannabiskonsums wirken da auch seltsam aus der Zeit gefallen. Und das betrifft auch die soziokulturellen Äußerungsformen, wie sie Die Linke entwickelt und perfektioniert hat. Hat das BSW da komplett was verschlafen? So würde ich das nicht sehen. Unser Wahlergebnis bei den unter 25-Jährigen liegt prozentual sogar etwas höher als im Gesamtergebnis. Aber wir sind jetzt nicht darauf aus, irgendwie so wie Heidi Reichinnek daherzukommen und eine Jugendkultur mitzuspielen. Das ist auch substanzlos und billiger Populismus und hat mit Vernunft und Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun. Und was jetzt die Sache mit Cannabis betrifft: Ich weiß, dass Sevim da einen konservativen Standpunkt hat. … aber musste sie den unbedingt in einer eigenen persönlichen Erklärung verbreiten? Das ging in sozialen Netzwerken viral und hat mit Sicherheit einiges an Zustimmung, besonders unter jüngeren Leuten, gekostet. Das ist ihr gutes Recht, und Sahra Wagenknecht hat auch mehrfach klargestellt, dass sie da eine andere Position vertritt. Aber man kann doch nicht einfach ausblenden, dass man keinen soziokulturellen Zugang zu bestimmten Gruppen hat, die nicht ganz unwichtig sind. Man kann Die Linke für ihre Politik mit vollem Recht in Grund und Boden kritisieren; aber dafür, dass sie erfolgreich in sozialen Medien auftritt und damit Aufmerksamkeit und auch Anhängerschaft generiert, wohl nicht. Wenn jemand Erfolg hat, hat er irgendwas richtig gemacht. Wir sind da sicher auch noch ausbaufähig. Wir haben uns lange, und das war ja auch richtig, auf die große Social-Media-Präsenz von Sahra verlassen, und sie hat ja immer noch eine große Reichweite. Trotzdem müssen wir natürlich weitere Leute da aufbauen und auch die Social-Media-Aktivität der Partei an sich ausbauen. Das ist aber auch eine Geld- und Personalfrage, und da sind wir erst am Anfang. Wir arbeiten auch am Aufbau einer Jugendstruktur des BSW. Wobei man sich fragen muss, wen man erreichen will. Das sind vermutlich soziokulturell anders geprägte junge Menschen als die, die Die Linke erreicht. Also ich will vor allem auch den Lehrling, den Maurer, die Friseurin erreichen und jetzt nicht unbedingt nur die Abiturientin und den Studenten. Die klassische Abschlussfrage: Wie wird das BSW nach Ihrer Einschätzung in einem Jahr dastehen? Das BSW wird auch in einem Jahr noch bestehen und weiter wachsen, weil der politische Platz, den wir eingenommen haben, sonst unbesetzt bliebe. Für Berlin bin ich mir sicher, dass wir dann mit einem sehr guten Programm und sehr guten Kandidaten in den Wahlkampf für das Abgeordnetenhaus starten, getragen von einer stabilen Basis mit deutlich mehr Mitgliedern und Unterstützern. Titelbild: © prviat
17:33
Zionismuskritische jüdische Stimmen im deutschen Mediensystem – Eine Analyse ihrer Marginalisierung seit 1948
Von der Gründung des Staates Israel bis in die Gegenwart ist der deutsche Diskurs über den Zionismus von einer bemerkenswerten Enge geprägt. Während die Medien in pluralistischen Demokratien wie den USA oder Großbritannien regelmäßig jüdische Stimmen zu Wort kommen lassen, die den Zionismus oder die israelische Regierungspolitik dezidiert kritisieren, erscheinen solche Positionen in den deutschen Leitmedien seit 1948 – wenn überhaupt – nur randständig, verzerrt oder in delegitimierender Weise. Diese Marginalisierung ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines historisch gewachsenen, institutionell stabilisierten und medial reproduzierten Meinungskorridors. Von Detlef Koch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die kritische Frage, welche Risiken damit für die demokratische Debattenkultur einhergehen, wurde lange kaum gestellt. Dabei ist der Ausschluss innerjüdischer Dissidenz aus dem öffentlichen Diskurs nicht nur ein medienpolitisches, sondern ein demokratiepolitisches Problem. Die historische Genese: Schuld, Solidarität, SchweigenDie Ursachen dieser systematischen Ausblendung zionismuskritischer jüdischer Positionen reichen tief in die Nachkriegszeit zurück. Der Holocaust und die daraus erwachsene Schuld der Deutschen schufen ein moralisches Klima, in dem Kritik am jüdischen Staat – und sei sie noch so sachlich oder innerjüdisch – schnell als pietätlos galt. Israel wurde als Symbol der jüdischen Wiedergeburt und als Projekt historischer Wiedergutmachung verklärt. In dieser Logik war das Selbstbestimmungsrecht der Juden sakrosankt – Kritik an dessen realpolitischer Ausgestaltung galt als ungehörig. Dies betraf selbst solch herausragende jüdische Intellektuelle wie Hannah Arendt oder Martin Buber. Ihre Warnungen vor einem ethnonationalistischen Staatsmodell und ihre Plädoyers für eine binational-demokratische Ordnung fanden in deutschen Medien kaum Resonanz. Vielmehr wurden ihre Positionen – wenn überhaupt – als theoretische Exzentrik oder gar als „jüdischer Selbsthass“ etikettiert. Mit der Erklärung der Sicherheit Israels zur „Staatsräson“ (Merkel, 2008) wurde diese symbolische Loyalität institutionell verankert. Sie wurde zum Prüfstein deutscher Identität – mit Folgen für den Journalismus: Medien, die über Kritik an Israel berichten, riskieren den Vorwurf, sich außerhalb des staatstragenden Konsenses zu bewegen. Institutionelle Einhegungen: Zentralrat, Gremien, DeutungshoheitEntscheidend für die Diskurshoheit über „das Jüdische“ in Deutschland ist die Rolle des Zentralrats der Juden. Dieser beansprucht seit Jahrzehnten die alleinige Vertretung jüdischer Interessen – und tut dies fast ausschließlich aus einer israelsolidarischen Perspektive. Zionismuskritische Juden wie Rolf Verleger oder Evelyn Hecht-Galinski wurden daher öffentlich marginalisiert oder institutionell ausgeschlossen. Verleger verlor nach seiner Kritik am Libanonkrieg 2006 seinen Sitz im Zentralrat. In der medienpolitischen Praxis führt dies dazu, dass fast ausschließlich Vertreter dieser loyalistischen Linie als Gesprächspartner eingeladen oder zitiert werden. Alternative Organisationen – etwa die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden“ oder das internationale Netzwerk „Jewish Voice for Peace“ – tauchen nur dann in Berichterstattung auf, wenn sie skandalisiert werden, z. B. im Zusammenhang mit BDS-Unterstützung oder provozierenden Aktionen. Die journalistische Praxis: Von der Unsichtbarkeit zur VerdächtigungDie mediale Behandlung zionismuskritischer jüdischer Stimmen folgt einem wiederkehrenden Muster: Sichtbar werden sie meist erst durch Kontroversen – und dann in einem abwertenden Ton. Judith Butler, eine bedeutende jüdische Philosophin, wurde 2012 nicht für ihre ethische Kritik am Staatsnationalismus gewürdigt, sondern als „umstrittene BDS-Unterstützerin“ porträtiert. Ihre Gegendarstellungen erschienen nur verzögert und nach öffentlichem Druck. Neturei Karta, eine ultraorthodoxe, anti-zionistische Gruppierung, wurde von der Welt als „Fanatiker“ und „Israel-Hasser“ betitelt – ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrer theologischen Argumentation gegen einen säkularen jüdischen Staat. Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann, ein scharfer Kritiker des politischen Zionismus, wurde vom Deutschlandfunk Kultur pauschal als „polemisch“ und „psychologisch spekulativ“ abgetan. Seine inhaltlichen Argumente über die politische Funktion des Antisemitismusvorwurfs wurden nicht aufgenommen, sondern psychologisiert. Hinzu kommt ein strukturierendes Framing: Jüdische Israelkritik wird routinemäßig als „extrem“, „randständig“ oder „nicht repräsentativ“ dargestellt. Selbst ein Offener Brief von Holocaust-Überlebenden, die Israels Gaza-Politik kritisierten, wurde in Spiegel Online relativiert, indem betont wurde, viele Unterzeichner seien „nur Angehörige“. Die demokratische Dimension: Was die Ausgrenzung kostetDiese Ausblendung hat weitreichende Folgen. Sie beschneidet die Meinungsvielfalt innerhalb des jüdischen Spektrums, fördert ein monolithisches Bild vom „Judentum“ als staatsloyale, pro-zionistische Formation – und verstärkt so die gefährliche Tendenz, jüdische Identität mit israeltreuer Haltung gleichzusetzen. Dadurch entsteht paradoxerweise eine Konstellation, in der ausgerechnet Juden, die an universalistische Ethiken, pazifistische Traditionen oder diasporische Identitäten anknüpfen, aus dem Diskurs ausgeschlossen werden – oft unter dem Vorwurf des Antisemitismus. Diese Logik pervertiert nicht nur den Begriff des Antisemitismus, sie gefährdet auch die demokratische Debattenkultur. Wenn jüdische Kritik an Israel – ob aus theologischer, historischer oder politisch-ethischer Motivation – reflexhaft delegitimiert wird, dann wird der öffentliche Raum enger. Die deutschen Medien riskieren, zur Bühne einer Selbstzensur zu werden, bei der bestimmte Fragen als unzulässig gelten – nicht weil sie polemisch, sondern weil sie historisch belastet sind. Wie Jacobin 2024 analysierte, kulminiert diese Praxis in einer „gefährlichen Verzerrung“: Deutschland stilisiert sich zum Wächter Israels – und verdrängt dabei, dass gerade jüdische Kritik ein Ausdruck lebendiger, pluraler Tradition ist. Erste Öffnungen – und ihr PotenzialEs gibt Anzeichen für eine allmähliche Öffnung: Tagesspiegel und Deutschlandfunk Kultur publizieren vereinzelt differenzierte Positionen. Persönlichkeiten wie Avi Primor oder Moshe Zimmermann intervenieren öffentlich gegen den Antisemitismusverdacht gegenüber jüdischen Israelkritikern. Solche Gesten haben Wirkung – und könnten helfen, einen breiteren, inklusiveren Diskurs zu ermöglichen. Doch der strukturelle Druck bleibt hoch. Die Angst vor Skandalisierung, institutionellem Gegenwind oder Anzeigen boykottfreudiger Verbände wie dem Zentralrat hemmt weiterhin viele Redaktionen. Es braucht daher nicht nur einzelne Beiträge, sondern eine konsequente journalistische Selbstvergewisserung: Wie viel Pluralität verträgt der Diskurs? Und welche Stimmen fehlen – gerade, weil sie unbequem sind? Fazit Die Marginalisierung zionismuskritischer jüdischer Stimmen in deutschen Leitmedien ist kein mediales Randphänomen, sondern ein zentrales Symptom einer diskursiven Verengung. Sie ist historisch erklärbar, institutionell abgesichert und journalistisch dokumentierbar – aber demokratisch riskant. Denn eine Debatte, die zentrale innerjüdische Kontroversen systematisch ausblendet, beraubt sich nicht nur kritischer Perspektiven, sondern verliert auch an Integrität. Gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung und identitätspolitischer Instrumentalisierung wäre es eine journalistische Tugend, die Vielfalt jüdischer Stimmen sichtbar zu machen – auch und gerade dann, wenn sie dem dominanten Konsens widersprechen. Meine verwendeten Quellen: Martin Kloke: Israel und die deutsche Medienöffentlichkeit, Tel Aviver Jahrbuch 2005 deutschlandfunk.de Deutschlandfunk Kultur, 23.02.2014 deutschlandfunkkultur.de Welt, 11.02.2014 welt.de ZEIT Online, 01.11.2013 zeit.de Tagesspiegel, 18.10.2021 tagesspiegel.de Jacobin, 15.10.2024 jacobin.de Jüdische Allgemeine, 26.08.2014 juedische-allgemeine.de Deutschlandfunk, 30.05.2005 deutschlandfunk.de Deutschlandfunk Kultur, 01.08.2020 deutschlandfunkkultur.de Titelbild: Pixel-Shot / Shutterstock
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Wieso stimmte Bundesregierung gegen Überprüfung von Menschenrechtsverstößen Israels durch die EU?
Bundeskanzler Friedrich Merz hatte direkt nach Amtsantritt eine neue deutsche Führungsrolle in der EU verkündet. Doch die einseitige Israel-Politik der CDU-geführten Bundesregierung hat bisher zum genauen Gegenteil geführt. Deutschland findet sich immer mehr in einer Minderheitenposition in der EU wieder. Diese Woche am 20. Mai stimmte Berlin gegen die überwiegende Mehrheit der EU-Länder, die einem niederländischen Vorschlag gefolgt waren, eine Prüfung einzuleiten, ob Israel mit dem Vorgehen in Gaza gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen gemäß Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel verstoßen hat. Die NachDenkSeiten wollten wissen, mit welcher Begründung sich Deutschland gegen eine solche Überprüfung ausgesprochen hat. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Hintergrund Am 20. Mai erklärte der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp, dass die Initiative seines Landes, von der EU-Kommission untersuchen zu lassen, ob Israel mit dem Vorgehen in Gaza nicht gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen gemäß Artikel 2 des Assoziierungsabkommens EU-Israel verstoßen hat, eine „breite Unterstützung“ der EU-Mitgliedsstaaten erhalten habe: „Die humanitäre Lage in Gaza ist katastrophal. Um das Leid zu lindern, bedarf es dringend massiver Hilfe. Es ist gut, dass die EU heute ein starkes Signal an Israel gesendet hat, die humanitäre Blockade vollständig und so schnell wie möglich aufzuheben. Mit der Ankündigung einer Untersuchung zur Einhaltung von Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel reagierte die Hohe Vertreterin der EU, Kaja Kallas auf eine niederländische Anfrage, die heute breite Unterstützung von den EU-Mitgliedstaaten erhielt.“ By announcing an investigation into compliance with Article 2 of the Association Agreement between the EU and Israel, EU High Representative @KajaKallas responded to a Dutch request that received broad from EU member states today. 2/3 — Caspar Veldkamp (@ministerBZ) May 20, 2025 Dies bestätigte wenig später auch die Hohe Vertreterin der EU für Außenpolitik, Kaja Kallas, gegenüber Reportern in Brüssel: „Aus den heutigen Diskussionen geht klar hervor, dass eine starke Mehrheit für eine Überprüfung von Artikel 2 unseres Assoziierungsabkommens mit Israel ist.“ Artikel 2 des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel, welches umfassend die Handels- und diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Seiten regelt, besagt, dass die Beziehungen „auf der Achtung der Menschenrechte und der demokratischen Grundsätze beruhen, von denen sich ihre Innen- und Außenpolitik leiten lässt und die ein wesentliches Element dieses Abkommens darstellen“. Das Abkommen ist von zentraler Bedeutung für Israel, da die EU, weit vor den USA, Israels größter Handelspartner ist – das Handelsvolumen beläuft sich auf über 45 Milliarden Euro pro Jahr. Der Brüssel-Korrespondent von Euronews, Jorge Liboreiro, veröffentlichte wenig später das Abstimmungsverhalten der EU-Mitgliedsländer. Daraus geht hervor, dass 17 EU-Länder sich für die Überprüfung des Assoziierungsabkommens mit Israel aussprachen, darunter eigentlich alle engen Verbündeten Deutschlands innerhalb der EU: Frankreich, Spanien, alle nordischen und baltischen Länder. Dagegen stimmten 9 Länder, neben Deutschland unter anderem auch Ungarn und Italien. Österreich enthielt sich als einziges Land: We can now reveal where each country stood during the meeting: In favour: Against: Neutral: https://t.co/y9U4GloJVl — Jorge Liboreiro (@JorgeLiboreiro) May 20, 2025 Vor diesem Hintergrund mutet es geradezu lächerlich an, dass das Auswärtige Amt eine Antwort auf die Frage der NachDenkSeiten, wie die Bundesregierung es begründet, dass man gegen den niederländischen Vorschlag gestimmt hat, mit dem Verweis darauf verweigert, dass Abstimmungen im EU-Außenrat vertraulich seien: „Ich kann Ihre Prämisse, wie wir uns da abstimmungsmäßig verhalten hätten, nicht bestätigen. Herr Warweg, die Abstimmungen und Gespräche im EU-Außenrat sind vertraulich.“ Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 21. Mai 2025 Frage Towfigh Nia (freier Journalist) (zum Nahostkonflikt) Herr Wagner, der israelische Finanzminister hat sich dahingehend geäußert, dass alles in Gaza zerstört werden wird und dass die Welt das nicht stoppen kann. Ich bitte um eine Reaktion dazu. Wagner (AA) Herr Towfigh Nia, danke für die Frage. – Wir haben in der Vergangenheit ja schon Äußerungen bestimmter israelischer Kabinettsmitglieder zurückgewiesen, wenn sie für den Friedensprozess und für eine politische Lösung dieses Konflikts nicht hilfreich sind. Ich glaube, in diese Kategorie fällt auch dieses Statement. Frage Towfigh Nia Das ist schon fast eine Völkermordansage. Verurteilt die Bundesregierung diese Äußerung? Wagner (AA) Ich habe doch gerade sehr klar gesagt, was wir davon halten. Es ist eine nicht hilfreiche Aussage, und natürlich muss sich Israel bei seinem Vorgehen im Kampf gegen die Hamas und bei seinem Vorgehen im Gazastreifen an humanitäres Völkerrecht halten. Frage Fried Herr Kornelius, trifft es zu, dass die Staats- und Regierungschefs der drei Staaten, die Israel jetzt sehr scharf kritisiert haben, nämlich Frankreich, Großbritannien und Kanada, dies vorher der Bundesregierung nicht angekündigt haben, obwohl der Bundeskanzler wiederholt mit Herrn Macron zu tun hatte? Regierungssprecher Kornelius Das Statement von Frankreich, Großbritannien und Kanada wurde unter diesen drei Nationen abgesprochen. Natürlich wurde auch unter den jeweiligen Regierungschefs über das Thema gesprochen. Es gab aber keine Notwendigkeit, da einen Ausgleich oder eine Koordinierung zu suchen. Die Bundesregierung hat ihre Position zur Militäroffensive sehr klar deutlich gemacht. Diese Offensive besorgt uns wirklich sehr. Der Bundeskanzler hat bei verschiedenen Gelegenheiten und vor allem in seiner Regierungserklärung darauf hingewiesen, dass er in großer Sorge über die humanitäre Lage in Gaza ist. Das hat er auch heute im Kabinett noch einmal sehr deutlich gemacht. Er ist auch im engen Austausch mit den europäischen Partnern darüber, um das in geeigneter Form auch noch einmal Israel zu vermitteln. Vieles, was in diesem Statement angesprochen wurde, wurde auch hier immer angesprochen, wurde vonseiten der Bundesregierung angesprochen. Ich glaube, man muss jetzt nicht sozusagen nach einer Formateinheitlichkeit suchen, um den Kern der Botschaft bzw. die Parallelität der Botschaft zu sehen. Ich glaube, dass da eine hohe Deckungsgleichheit besteht. Es ist für die Bundesregierung immer wichtig, dass sie ihre Kommunikationswege zur israelischen Regierung offenhält und ihre Punkte auch direkt anbringen kann. Das ist auch durch den Besuch des Außenministers – am vorletzten Wochenende war es, glaube ich – geschehen. Es ist natürlich auch das Ziel der Bundesregierung, im EU-Kreis weiter diese Abstimmungen zu suchen. Auch diesbezüglich gibt es momentan Vorstöße auf Brüsseler Ebene. Seien Sie versichert, dass die Bundesregierung sich an diesen Abstimmungen intensiv beteiligt. Zusatzfrage Fried Es gab gestern den Vorstoß der Niederlande, man sollte überprüfen, ob sich Israel eigentlich noch an das Partnerschafts- und Wirtschaftsabkommen hält. Wenn ich richtig informiert bin, sind 22 EU-Staaten dafür. Gehört Deutschland dazu, Herr Wagner, oder wo positionieren wir uns da? Wagner (AA) Mit Blick auf die humanitäre Lage in Gaza haben wir immer wieder gesagt – das hat Herr Kornelius eben auch zum Ausdruck gebracht -, dass sich ernsthafte Fragen stellen. Es ist doch auch klar, dass das regelmäßig Thema im EU-Außenrat ist, so eben auch gestern. Wir sind überzeugt – das hat Herr Kornelius eben auch gesagt -, dass wir derartige Fragen im Dialog mit der israelischen Regierung beantworten müssen. Aus Sicht der Bundesregierung ist das EU-Israel-Assoziierungsabkommen ein wichtiges Forum, um auch diese kritischen Fragen zu erörtern und zu besprechen, und es sollte in diesem Sinne genutzt werden. Was Ihre konkrete Frage zum Abstimmungsverhalten betrifft: Die Gespräche, die dazu im EU-Außenrat liefen, sind natürlich vertraulich. Frage Dr. Rinke (Reuters) Herr Kornelius, direkt daran anknüpfend: In der Ukraine-Debatte wird von der Bundesregierung die Notwendigkeit der Einheit unter den EU-Regierungen stark betont. Warum ist das hier bei Israel eigentlich nicht der Fall? Es wurde eben schon darauf hingewiesen, dass die große Mehrzahl der EU-Länder mittlerweile in Richtung Sanktionen oder Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens mit Israel geht. Auch Frau Kallas hat das gestern ins Gespräch gebracht. Warum ist es für die Bundesregierung bei diesem Thema anscheinend nicht das Ziel, diese europäische Einheit herzustellen? Kornelius Sie wissen, dass ich kein Freund von Krisenvergleichen bin und diese Art von geopolitischem Whataboutism eigentlich nicht anstellen möchte. Ich glaube, dass die Situation in Gaza für sich spricht. Die Bundesregierung hat sehr klar ihre große Besorgnis zum Ausdruck gebracht. Sie nutzt jetzt ihre direkten Gesprächskanäle, und sie verfolgt auch die Abstimmung im Europäischen Auswärtigen Dienst bezüglich des Partnerschaftsabkommens sehr genau und gestaltet sie auch mit. Lassen Sie sich versichert sein, dass die Abstimmungen dazu momentan laufen. Zusatzfrage Dr. Rinke Herr Wagner, habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie dafür sind, dass die Gespräche im EU-Assoziierungsabkommen weitergehen und nicht ausgesetzt werden sollten? Ist das die Position der Bundesregierung? Wagner (AA) Ich habe gesagt, dass aus Sicht der Bundesregierung das EU-Israel-Assoziierungsabkommen ein wichtiges Forum ist, das eben auch dazu da ist, kritische Fragen zu erörtern, und in diesem Sinne genutzt werden sollte. Lassen Sie mich zu Ihrer ersten Frage vielleicht auch noch sagen: Wir stehen in enger Abstimmung mit unseren Partnern. Sie haben vielleicht auch gesehen, dass der Außenminister gestern gemeinsam mit 21 Amtskollegen – zum Beispiel auch der E3 und der EU – die israelische Regierung aufgefordert hat, die vollständige Wiederaufnahme von Hilfslieferungen zu genehmigen und den Vereinten Nationen und humanitären Organisationen die unabhängige und unparteiische Arbeit in Gaza zu ermöglichen. Frage Jung (jung und naiv) Ich wundere mich gerade: Es ist ja bekannt, dass Deutschland in Brüssel gestern gegen die Überprüfung des Assoziierungsabkommens gestimmt hat und dass Sie das klar in der Minderheit sind und sich weiter isolieren. Auch bei der Kritik von Großbritannien, Frankreich und Kanada ist Deutschland nicht dabei, und Herr Kornelius tut gerade so, als ob das ebenfalls nicht so wäre. Was machen Sie uns hier eigentlich vor? Herr Wagner, ich habe in den letzten zwei Tagen auch keine Kritik daran gehört, dass Israel am Ende nur neun Lkw nach Gaza hineingelassen hat, obwohl Sie ja selber sagen, pro Tag seien 600 Lkw notwendig. Warum gab es auch dazu nichts? Wagner (AA) Ich weise zurück, Herr Jung, dass es dazu nichts gab. Wir stehen in einem engen Austausch mit der israelischen Regierung, und es ist doch völlig klar, dass die bisherigen Hilfslieferungen viel, viel zu wenig sind, dem Bedarf nicht entsprechen und dass sehr viel mehr rein muss. Vor allem müssen auch die Vereinten Nationen und die humanitären Organisationen dort unabhängig arbeiten dürfen. Zu Ihrer ersten Bemerkung: Es tut mir leid, aber ich war, glaube ich, sehr transparent. Ich habe ja dargelegt, was die Position der Bundesregierung ist. Es ist doch vollkommen unstrittig, dass wir innerhalb der EU immer wieder unsere Position diskutieren und angleichen, und natürlich gibt es auf manches einen etwas unterschiedlichen Blick. Zu der Frage des EU-Israel-Assoziierungsabkommens haben wir aber eine sehr klare Position. Die haben wir dort auch deutlich gemacht und die werden wir dort auch weiter einbringen. Am Ende eint uns alle in der EU aber, glaube ich, dasselbe Ziel: Es geht darum, eine Lösung für diesen Konflikt in Gaza zu finden, es geht darum, eine Lösung für das Leid der Menschen in Gaza zu finden, mehr humanitäre Hilfe hineinzubekommen, die Geiseln freizubekommen und endlich in einen politischen Prozess zu kommen, der eine nachhaltige Lösung des Nahostkonflikts ermöglicht. Das ist eben hochkomplex und schwierig. Ich weiß, das Leid ist grenzenlos und das frustriert uns alle – es frustriert Sie, es frustriert uns -; aber es geht doch darum, konkrete Dinge zu erreichen. Insofern sind diese ersten Lieferungen durch die israelische Regierung ein guter, wichtiger, richtiger Schritt, und das haben wir hier auch unterstrichen. Es ist aber vollkommen klar, dass sehr viel mehr hineinkommen muss. Frage Warweg Noch einmal auf den niederländischen Vorschlag zurückkommend: Die Niederländer hatten ja lediglich eingefordert bzw. vorgeschlagen, dass man überprüft, ob Israel mit seinem Vorgehen in Gaza gegen seine Menschenrechtsverpflichtungen gemäß Artikel 2 des EU-Israel-Assoziierungsabkommens verstößt. Ihre Antwort dazu hat sich mir immer noch nicht erschlossen. Wieso hat Deutschland als eines der ganz wenigen Länder gegen diesen niederländischen Vorschlag gestimmt. Wagner (AA) Ich kann Ihre Prämisse, wie wir uns da abstimmungsmäßig verhalten hätten, nicht bestätigen. Ich habe jetzt zweimal dargelegt, wie die deutsche Position zum deutsch-israelischen Assoziierungsabkommen ist, und darauf verweise ich noch einmal. Frage Warweg Aber entschuldigen Sie, Herr Wagner – das hat auch der Kollege schon angesprochen -, das Abstimmungsverhalten der EU-Länder ist presseöffentlich. Sie können doch nicht sagen, dass Sie das nicht sagen, wenn bereits bei Euronews und Reuters öffentlich einsehbar ist, wie Deutschland abgestimmt hat. Ich glaube schon, dass Sie uns da eine Begründung geben können, wieso man sich sogar gegen eine Überprüfung von Menschenrechtsverletzungen im Zuge des Assoziierungsabkommens stellt. Das sollten Sie in der deutschen Öffentlichkeit schon begründen können. Wagner (AA) Herr Warweg, die Abstimmungen und Gespräche im EU-Außenrat sind vertraulich. Es mag Presseberichte darüber geben, was dort besprochen wird. Darüber zu berichten, steht Ihnen ja frei, und das ist auch Ihre Arbeit. Es gibt eine Position der Bundesregierung, wie wir zum EU-Israel-Assoziierungsabkommen stehen. Wir finden, das ist ein Forum, das man nutzen muss, um eben auch kritische Fragen zu stellen. Wir haben im Übrigen eine Menge Fragen zur völkerrechtlichen Situation in Gaza, die wir hier auch immer wieder darbieten und Ihnen erläutern. Insofern, glaube ich, ist Ihre Frage beantwortet worden. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 21.05.2025 Mehr zum Thema: Wieso lässt Merz ein Bild der 1948 ethnisch gesäuberten „Zikim Beach“ im Kanzleramt aufhängen? „Halten wir für haltlos“ – Klage Nicaraguas gegen Deutschland wegen Gaza vor dem IGH und die Arroganz der Bundesregierung Vogel-Strauß-Taktik der Bundesregierung: Von Deutschland gelieferte Kriegswaffen im Einsatz gegen zivile Ziele in Gaza Historische Bundespressekonferenz: „Deutschland muss sich als Mittäter an den Reparationszahlungen für Gaza beteiligen“
17:20
Weg mit dem Busen! Kunst, Kultur und Kritik bitte nur noch im enden Outfit
Eine klassizistische Statue musste aus einer Bundesbehörde weichen. Weil sie durch ihre Nacktheit Anstoß hätte erregen können. Tat sie zwar nicht, aber sicher ist sicher, dachte sich die Gleichstellungsbeauftragte. Ob sie auch das Internet verbieten würde? Ein Akt der Verzweiflung von Ralf Wurzbacher. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Eine bronzene Statue, splitternackt, im öffentlichen Raum. Wo gibt‘s denn sowas? Beziehungsweise: Wo gibt‘s denn sowas nicht? Also nicht mehr? Antwort: Im Foyer des Bundesamts für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) in Berlin-Weißensee. Bis irgendwann im Sommer des Vorjahres stand da noch die „Venus Medici“ und entzückte mit ihrer Schönheit und Erhabenheit die Ankömmlinge einer Behörde, deren Name und Metier so steif, bieder und deutsch anmuten wie Bockwurst mit Senf. Nun ja, womöglich, vielleicht, eventuell mag der Anblick der Figur manch einem die Sinne so berauscht haben, dass ihm die Kontrolle über den Unterleib entglitt und – Sie wissen schon … Schließlich soll es ja Zeitgenossen geben, schrieb am Montag die Berliner Zeitung (hinter Bezahlschranke), die sich in städtischen Parkanlagen an bloßen Frauen- oder auch Männerskulpturen vergehen, beglaubigt durch „verräterisch glänzende Berührungsstellen an gewissen erogenen Zonen“. Mithin würden die Schutzlosen sogar schamlos mit Farbe, Speichel oder was auch immer besudelt. Objekt der Begierde? Über die Venus vom Amt ist derlei nichts überliefert. Wie es heißt, wäre nie irgendwer gegen sie übergriffig geworden, hätte sie betatscht oder in MeToo-Manier bekleckert. Und keiner habe je geklagt, die Bronze als anstößig zu empfinden. Und dennoch musste sie weichen, nach zehn langen Jahren, umwittert von bürokratischer Muffigkeit. Denn es gab doch wen, offenbar nur eine Einzige, für die ihre Erscheinung zum Problem wurde. Es war dies die Gleichstellungsbeauftragte des Hauses. Von ihr erging ein Hinweis an höhere Stelle, wonach die metallene Plastik ein sexistisches Ärgernis sein „könnte“, woraus sich Handlungsbedarf aufgrund des Bundesgleichstellungsgesetzes ergeben würde. Und so „ergab“ es sich, dass alles ganz schnell ging. Die Alarmierte schlug beim Bundesverwaltungsamt (BVA) Alarm, das die fragliche Liegenschaft bewirtschaftet und dieser Tage, zehn Monate später, ausrichten ließ, das vermeintliche Objekt der Begierde Mitte Juli 2024 an die Kunstverwaltung des Bundes überstellt zu haben. Allerdings sei das BADV „weder über die Entfernung des Kunstwerkes noch über die Gründe informiert“ worden, teilte dessen Pressestelle mit. Was zweierlei Schlüsse erlaubt: Das Amt stellt sich dumm, schließlich macht man sich gerade zum Gespött der BILD-Zeitung. Oder es beschäftigt eine Gleichstellungsbeauftragte, die sich selbstherrlich über Geschäftsleitung und Belegschaft stellt und in geheimer Mission das Moralzepter schwingt. Spirale der Scheinheiligkeit Man mag sich kaum vorstellen, wofür die Dame noch so missionieren könnte. Etwa für ein Urlaubsverbot in Hellas? Dort lauern an jeder Ecke nackte Künder der klassischen Antike und stellen frivol Busen, Scham und Gemächt zur Schau. Wie viele empfindsame Gemüter mag das schon zur Schamesröte und zur griechischen Außenstelle für feministische Außenpolitik getrieben haben? Deshalb: Hinfort mit Euch, Ihr schmutziges Gesindel, macht Euch von dannen, zurück in die Barbarei der Präzivilisation, auf dass wir Euch nicht mehr sehen und nichts mehr von Euch wissen müssen! Und wenn das nicht geht: Zieht Euch wenigstens was über! Spaß beiseite, denn spaßig ist das alles nicht. Vielmehr bedrückend, beängstigend und exemplarisch – für den grassierenden Geist an Geistlosigkeit, der durch die Republik weht. Denn was ist die „Venus Medici“? Kunst! Und Kunst muss gesehen, bewundert, bedacht, durchdacht werden. Und ja: Sie soll auch Anstoß erregen und auf gesellschaftliche Missstände stoßen. Wie zum Beispiel den, dass das Internet voll ist von Obszönität, Perversion und Bestialität. Heranwachsende werden heute wie selbstverständlich mit Gewalt und Pornographie groß, und läuft es ganz schlecht, werden sie zu Gaffern von Kindesmissbrauch, mithin selbst zu Opfern von Schändern. Das alles verhandelt der Kapitalismus – und „verkauft“ es buchstäblich – als Freiheit. Aber einen steinernen Nackedei sollen wir nicht mehr ertragen müssen. Wie weit kann sich die Spirale der Heuchelei noch drehen? Keusch und gar nicht sexy Ein Akt der Dummheit ist der Fall der verbannten „Venus Medici“ selbst im persönlichsten Sinne. Das im 18. Jahrhundert gefertigte Bildnis ist ein Abguss des antiken Originals aus Marmor, das noch vor Christi Geburt geschaffen wurde und heute zur Kunstsammlung der „Uffizien“, einer Kunstgalerie in Florenz, gehört. In der römischen Mythologie verkörperte die Venus die Göttin der Liebe und Entstehung neuen Lebens und war damit das Pendant der altgriechischen Aphrodite. Und sie figuriert das exakte Gegenteil von Lüsternheit und Gier oder sonstigen Attributen, die ihr um Geschlechtergleichstellung besorgte Sittenwächter(Innen) zuschreiben mögen. Heute steht die Statue im „Grassi Museum für angewandte Kunst“ in Leipzig. Dort erfährt der Besucher, sie sei „nach dem mythischen Typus der ‚pudica‘ (keusch) dargestellt – ertappt, wie sie instinktiv ihre Brüste und Scham bedeckt, als ob sie sich von einem indiskreten Blick beobachtet fühlt“. Also allenfalls etwas für Tugendphantasten, aber „nix mit Sexismus“, wie der Berliner Kurier festhielt. Und wohl auch nix für Lustmolche, denen das Patriarchat hinterm Hosenlatz schwillt. Eher zum Steinerweichen anmutig. Jedenfalls ist man in Leipzig froh und glücklich über die Leihgabe der Kunstverwaltung des Bundes, die dort seit Januar museal ihre Frau steht, so nackt und ästhetisch wie ehedem in Weißensee. Wobei zu hoffen bleibt, dass das so bleibt und in Deutschland nicht alsbald Kunst- und Kulturverächter, Umerzieher, Bilderstürmer und Bücherverbrenner wieder die Oberhand erlangen, um, diesmal im Namen von „Freiheit“, „Gleichstellung“, „Vielfalt“ und „Offenheit“, neben missliebigen Meinungen obendrein die Artefakte menschlicher Schöpfung zu beseitigen, auszumerzen oder, wie man heute neudeutsch sagt, zu „canceln“. Mit besten Absichten „kriegstüchtig“ Die vertriebene Venus wüsste davon, so sie könnte, aus leidlicher Erfahrung zu berichten. 1990 hatten sie Polizeitaucher der DDR aus dem Großdöllner See in der Schorfheide im nördlichen Brandenburg geborgen. Sie war einst Teil der erbeuteten Schätze von Hermann Göring, die Hitlers Reichsmarschall in seinem Jagdschloss „Carinhall“ verschanzt hielt. Als im April 1945 die Rote Armee anrückte, sprengten SS-Schergen das Anwesen in die Luft und verklappten die Kostbarkeiten kurzerhand im Wasser. So kann es gehen, wenn Kunst, Kultur und Kritik im Weg sind. Einfach weg damit! Und beim Großreinemachen macht sich Vergessen breit. Wer entsinnt sich noch, dass „Wehrtüchtigkeit“ und „Kriegstüchtigkeit“ Propagandaparolen der Nazis waren? Kaum einer oder niemand mehr? Treffer, versenkt! Titelbild: Grok – Das Titelfoto ist ein mit künstlicher Intelligenz erstelltes Symbolbild
08:41
„Die Stärkung der Ostflanke“ – was für ein geschichtsloses militaristisches Geschwätz!
Unsere Medien manipulieren ohne Rücksicht auf Verluste. Heute meldet die Regionalzeitung Die Rheinpfalz auf der Basis einer dpa/adh-Meldung: „Merz verspricht Hilfe gegen russische Bedrohung“. Im Einführungstext ist von der „wachsenden Gefahr durch Russland“ die Rede. Und dann wird ein Foto abgedruckt. Es zeigt den Bundeskanzler, den Bundesverteidigungsminister und deutsche Soldaten mit einer deutschen Flagge in Litauen. Im Text heißt es „Abschreckung und Verteidigung sind Deutschlands Top-Prioritäten“. Und zu Anfang des Textes wird wie selbstverständlich als vernünftig unterstellt, dass die Verteidigungsausgaben auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erhöht werden und weitere 1,5 Prozent zusätzlich für militärisch notwendige Infrastruktur ausgegeben werden sollen, also 5 Prozent insgesamt. – Der helle Wahnsinn. Nicht für die Zeitung und nicht für den abgebildeten Kanzler und Minister. Albrecht Müller. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Jetzt wird unsere Freiheit nicht mehr am Hindukusch verteidigt, sondern im Baltikum. Da ich schon einige Jahre auf dem Buckel habe, sind mir die Tiefen und Höhen der Sicherheitsdebatte noch aus eigenem Erleben bewusst. Es fing so blöd wie heute an – mit Adenauers CDU-Anzeigen. „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“. Siehe hier: Dann kamen einige deutsche Politiker nach dem Mauerbau von 1961 zur Besinnung. Im Sommer 1963 berichtete der SPD-Vorsitzende Brandt und sein Weggefährte Egon Bahr auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing von neuen Überlegungen: „Wandel durch Annäherung“ lautete jetzt die Parole. Das bedeutete praktisch: Verhandeln, zusammenarbeiten, sich annähern, um damit auch einen inneren Wandel beim politischen Gegner im Osten zu erreichen. Das betraf damals neben Russland auch Polen, Tschechien, Ungarn usw. Diese Strategie hat funktioniert. Am 28. Oktober 1969 erklärte der neue Bundeskanzler, Willy Brandt: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“. Es kam zum Botschafteraustausch und zu verschiedenen Verträgen mit Moskau, mit Warschau, mit Prag. Der Kern dieser Verträge: Gewaltverzicht. – Zwischenfrage: Warum geht das heute nicht? Und dann kam es zur KSZE, zur Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, und zur OSZE, zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Heute suchen die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker ihr Glück in der Aufrüstung. Das kann man gut und gerne die „Militarisierung der Politik“ nennen. Welch ein Rückschritt!! Welch ein Wahnsinn! Die meisten Medien folgen dem wie dumme Lämmer. Im konkreten Fall hat die Geschichte auch noch ein Nebenkapitel: Kanzler Merz und Verteidigungsminister Pistorius haben sinnigerweise ein Land zur neuerlichen Verkündung ihrer dummen Sprüche gewählt, das beim letzten großen Krieg in Europa sowohl Opfer des deutschen Militärs und der Nazis als auch Opfer des sowjetischen Militärs geworden war: Litauen und die baltischen Staaten insgesamt. Dass die beiden Politiker diesen Zirkus mitmachen, enttäuscht. Sie sind offensichtlich wie die meisten Medien Opfer westlicher Propaganda. Diese macht blind. Der beschriebene Rückschritt lässt übrigens trotz allem hoffen. Es könnte ja wie zwischen den 1950er-Jahren und 1963/1969 noch einmal eine Wende zur Vernunft geben. Das setzt voraus, jetzt die laufende Eskalation der Konfrontation zu stoppen.
04:41
Das Ende von red.media – Berichte über propalästinensische Proteste sind jetzt „russische DesinformationR
Nicht nur Alina Lipp und Thomas Röper stehen als Journalisten auf der neuen Sanktionsliste der EU. Es hat auch einen türkischen Journalisten und Medienunternehmer erwischt, den Betreiber der Medienplattform red.media, der eine sehr wichtige Rolle in der Berichterstattung über und für die propalästinensische Protestbewegung in den letzten Jahren gespielt hat. Diese hatte aber schon einige Tage vorher ihr Aufgeben mitgeteilt. Was sich im Vorfeld abgespielt hat, erlaubt tiefe Einblicke über das Zusammenspiel von Medien, Politik und Institutionen bei der Moderation des politischen Diskurses. Ein Artikel von Maike Gosch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. In diesem Artikel vom 22. Mai 2025 berichteten die NachDenkSeiten bereits über eine weitere Eskalation im Kampf um die Meinungsfreiheit und Meinungshoheit durch das Setzen der deutschen Journalisten Thomas Röper und Alina Lipp auf die 17. Sanktionsliste der EU, was unter anderem auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann. Auf dieser Liste, die am 20. Mai 2025 veröffentlicht wurde, findet sich noch ein weiterer Journalist, dem das Verbreiten von Desinformation vorgeworfen wird – es handelt sich um den türkischen Journalisten und Dokumentarfilmer Hüseyin Doğru, der die Medienplattform red.media betreibt, welche auch in Deutschland bekannt ist und auf Englisch, Deutsch und in weiteren europäischen Sprachen erscheint. Auch Doğrus Firma AFA Medya, die red.media betreibt, findet sich auf der Liste. Bereits am 16. Mai 2025 veröffentlichte red.media auf ihrer Website die Erklärung, dass die Leitung sich aufgrund einer Medienkampagne und staatlicher Verfolgung in Deutschland entschlossen habe, ihre Tätigkeit einzustellen. Die Sanktionen waren also gar nicht mehr nötig. Was war iert? Red.media selbst beschreibt in ihrer Erklärung die Ereignisse folgendermaßen: „Die Desinformationskampagne Deutschlands gegen red.media Seit Monaten läuft eine koordinierte Kampagne gegen red.media – angeführt von einem fragwürdigen Bündnis aus deutschen Medienhän, Journalist:innen, Gewerkschaftsfunktionär:innen und NGOs, von denen einige direkt vom deutschen oder israelischen Staat gegründet oder finanziert werden. Ziel dieser Kampagne ist es, red.media durch Anzeigen, mediale Hetze und juristischen Druck einzuschüchtern, zu kriminalisieren und letztlich zum Schweigen zu bringen – mit dem Kalkül, durch konstruierte Vorwürfe und massiven Öffentlichkeitsdruck eine strafrechtliche Verurteilung zu erzwingen. Doch wir werden nicht tatenlos zusehen. Zum Hintergrund In den vergangenen Wochen wurde red.media unter anderem Folgendes vorgeworfen: Wir hätten pro-palästinensische Proteste in Deutschland angestiftet. Wir hätten die Besetzung der Humboldt-Universität in Berlin durch palästinensische Aktivist:innen „koordiniert“. Wir würden „Terroristen eine Plattform bieten“ – gemeint sind unsere Interviews mit relevanten politischen Akteuren im Nahen Osten. Wir seien eine Fortsetzung des Medienprojekts redfish. Wir hätten angeblich eine Kampagne gegen einen Journalisten gestartet – einzig durch die sachliche Auflistung seines beruflichen Hintergrunds. Diese Vorwürfe sind nicht nur konstruiert – sie sind Teil einer breiter angelegten Strategie: Kritische, dissidente Medien wie red.media sollen diffamiert, kriminalisiert und letztlich zerschlagen werden. Unsere journalistische Arbeit wird systematisch verzerrt, unsere Positionen bewusst falsch dargestellt. Was wir erleben, ist kein öffentlicher Diskurs, sondern orchestrierte Repression – legitimiert durch einen medial erzeugten Mythos der Bedrohung. Es ist ein Angriff auf unabhängigen Journalismus – und auf jede Stimme, die sich dem offiziellen Narrativ widersetzt.“ In einem Interview mit The Left Berlin erklärt Hüseyin Doğru seine Sicht der Dinge und Zusammenhänge noch ausführlicher. Red.media berichtete in den letzten Jahren ausführlich über propalästinensische Proteste in Deutschland und wurde (dafür?) von deutschen Zeitungen wie der (ehemals linken) taz und dem (nie linken) Tagesspiegel stark kritisiert. Insbesondere gab es schon länger den Versuch, die Plattform mit dem in der EU sanktionierten und mit einem Sende- und Veröffentlichungsverbot belegten russischen Sender RT in Verbindung zu bringen. Diese Vorwürfe und Ergebnisse der geheimdienstähnlichen Ermittlungen der beiden deutschen Tageszeitungen wurden im September 2023 vom US-amerikanischen Außenminister Antony Blinken in einer Pressemeldung – Inhalt leider nicht mehr verfügbar, da von der neuen US-Regierung unter Donald Trump archiviert, hier ein paar der Inhalte – aufgegriffen und wiederholt, was wiederum Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram, dazu brachte, am 16. September 2024 sämtliche s von red.media zu sperren. Auch der YouTube-Kanal von red.media wurde gesperrt. Red.media selbst nimmt zu den Vorwürfen der deutschen Medien, der (früheren) US-Regierung, der deutschen Strafverfolgungsbehörden und der EU (in seiner Erklärung vom 16. Mai 2025) folgendermaßen Stellung: „Die aktuelle Kampagne gegen red.media ist eine beunruhigende Strategie moderner Desinformationsstrategien, die von der herrschenden Klasse und ihren Handlangern betrieben wird. Im Kern geht es um den gezielten Einsatz unbegründeter Anschuldigungen, die in einem sich ständig wiederholenden Kreislauf von Medien und politischen Akteuren verstärkt und schließlich als vermeintliche Fakten präsentiert werden. Dies erinnert an die Strategien autoritärer Regierungen, sowohl heute als auch in der Vergangenheit. Das Ziel: abweichende Stimmen öffentlich zu delegitimieren und zu kriminalisieren – insbesondere diejenigen, die sich für Palästina einsetzen. Die Umsetzung dieser Strategie gegen red.media begann mit einem Artikel im Tagesspiegel, in dem spekuliert wurde, dass red.media ein Nachfolger der russisch finanzierten digitalen Plattform Redfish sei – ohne einen Funken konkreter Beweise und ausschließlich basierend auf den beruflichen Verbindungen einiger weniger Personen. Diese Spekulation wurde später in einer offiziellen Erklärung des damaligen US-Außenministers Antony Blinken als „Fakt“ wiederholt, wobei er direkt (und ausschließlich) den Tagesspiegel als Quelle angab, obwohl das Quellmaterial selbst keine Beweise enthielt. Der Tagesspiegel berichtete euphorisch über Blinkens Erklärung; ihre ursprüngliche unbegründete Behauptung wurde aufgegriffen und zu einer „Tatsache“ recycelt, indem sie einfach von einem der mächtigsten Politiker der Welt, der sich mitschuldig am Völkermord in Gaza gemacht hat, ausgesprochen wurde. Aber die Tatsache blieb bestehen: Es gab immer noch keine Beweise. So gewinnt eine ursprünglich unbegründete Annahme durch politische Wiederholung scheinbare Glaubwürdigkeit. Diese Rückkopplungsschleife – in der Spekulationen sich auf ihre eigene Berichterstattung als Beweis berufen – ist eine klassische Methode der diskursiven Eskalation. Das ist professionelle Desinformation. Der Mechanismus folgt einem klaren Muster: Eine unbegründete Annahme wird öffentlich gemacht. Politische oder journalistische Institutionen greifen sie auf und verbreiten sie. Die ursprüngliche Quelle der Behauptung nutzt diese Reaktion dann, um die Annahme als „bestätigte Tatsache“ umzudeuten, die auch von Reporter ohne Grenzen Deutschland verwendet wird (Seite 19).“ Wenn man sich die Artikel in der taz und im Tagesspiegel durchliest und daraufhin das, was über die Pressemeldung von Antony Blinken bekannt ist, ist es schwer, red.media hier nicht zuzustimmen. Es gibt zwar Verbindungen zwischen red.media und Ruptly, einer russischen Nachrichtenagentur, die sich als Alternative zu westlich geprägten Nachrichtenagenturen wie Reuters und AP sieht und die „Verbindungen zum russischen Staat“ haben soll bzw. „vom russischen Staat betrieben wird“, wie es in vielen Beschreibungen heißt, dies wird aber von Ruptly selbst zurückgewiesen. Es ist sehr schwer, sich in diesem Dschungel von Anschuldigungen und Halbwahrheiten zurechtzufinden. Aber selbst die Verbindungen zwischen red.media und Ruptly sind nicht – zumindest nicht juristisch – eindeutig. Der Hauptvorwurf lautet, dass einige der Mitarbeiter von Ruptly nach deren Schließung zu red.media hinübergewechselt sind und dass red.media den ehemaligen Telegram-Kanal von Ruptly nach deren Schließung übernommen (und, ich nehme an, umbenannt) hat. Darüber hinaus gibt es keine Belege dafür, dass red.media in irgendeiner Form vom russischen Staat angeleitet oder finanziert wird. Die vermuteten Verbindungen zwischen red.media und dem russischen Staat gleichen daher eher dem „six-degrees-of-separation“-Modell (auf Deutsch: „Sechs Ecken Theorie“, die besagt, dass jeder Mensch auf der Welt über höchstens sechs Zwischenstationen mit jeder anderen Person verbunden ist). Der Tagesspiegel gibt in seinem Artikel vom 14. September 2024 selbst zu: „Das US-Außenministerium bezieht sich in seiner Begründung der Vorwürfe gegen RT und „Red“ ausdrücklich auf die Recherchen des Tagesspiegels.“ Es ist daher schwer, hierin nicht den von red.media behaupteten Zirkelschluss zu sehen: Der Tagesspiegel unternimmt Recherchen, präsentiert dann Ergebnisse, die teilweise auf Vermutungen und Spekulationen beruhen, der US-amerikanische Außenminister übernimmt diese Vorwürfe – diese Presseerklärung wird wiederum von der deutschen Presse als Beleg für die Vorwürfe genommen und dient sogar als Grundlage für die Schließung der Social-Media-Kanäle durch US-amerikanische Medienkonzerne mit quasi Monopolstellung. So verdichten sich Verdächtigungen und Spekulationen durch Weiterreichung und Wiederholung zu immer verhärteteren Vorwürfen, die irgendwann zu „Fakten“ werden. Die Vorwürfe einer Kampagne gegen Nicholas Potter Jenseits des Vorwurfs des „irgendwie-mit-dem-russischen-Staat-verbunden-sein“ gab es noch die Vorwürfe einer konzertierten Medienkampagne durch red.media gegen den jungen taz-Journalisten Nicholas Potter aufgrund seiner sehr kritischen Berichterstattung über red.media und die propalästinensischen Proteste in Berlin. Red.media hatte über das Praktikum des taz-Journalisten bei der Jerusalem Post im Frühjahr 2025 berichtet und in einem „Thread“ (einer verbundenen Liste von einzelnen Postings) auf X aufgelistet, für wie viele aus red.medias Sicht prozionistische Zeitungen und Organisationen er bereits tätig war. Dieses Posting wurde von Potter selbst dann als Medien-Kampagne gegen ihn bezeichnet. Dieser Vorwurf Potters wurde wiederum dann zeitnah von Jörg Reichel von „dju in ver.di“ (der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union in der Vereinten Dienstleistungsgesellschaft) auf X aufgegriffen und auch von der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ in deren Report zur Lage der Pressefreiheit in Deutschland wiederholt. Generell ist nichts dagegen zu sagen, dass sich die „Journalisten-Gewerkschaft“ und „Reporter ohne Grenzen“ schützend vor einen Journalisten stellen, der in Folge dieses Postings von red.media Bedrohungen und Beleidigungen im Netz ausgesetzt war und von dem sogar „Fahndungsplakate“ hergestellt und in Berlin plakatiert wurden. Dennoch erscheint es recht ungerecht und unausgewogen, dass red.media bei der gegen sie gerichteten Medienkampagne nicht ähnlichen Schutz und ähnliche Solidarität widerfuhr. Begründung der EU-Sanktionen Auch die EU-Sanktionen scheinen sich in ihrer Begründung auf die „Ermittlungen“ der Tagesspiegel- und taz-Redakteure zu stützen, obwohl sie keine Beweise, Quellen oder Belege in der Sanktionsbegründung aufführen, aber die Argumentation ist identisch. Begründet wurde die Sanktionierung von Doğru und seinem Medienunternehmen von der EU in der Sanktionsliste nämlich folgendermaßen: „Hüseyin Doğru ist der Gründer und Vertreter des AFA Medya A.Ş., einem in Istanbul ansässigen Medienunternehmen. AFA Medya A.Ş. betreibt ‚RED‘, das eine Reihe von Medienplattformen umfasst und enge finanzielle und organisatorische Verbindungen zu Organisationen und Akteuren der Staatspropaganda in Russland hat und über tiefe strukturelle Beziehungen zu Einrichtungen der staatlichen russischen Medien verfügt, unter anderem durch Verbindungen zwischen einzelnen Mitarbeitern sowie Personalrotation zwischen diesen Einrichtungen. RED hat seine Medienplattformen, auf denen es häufig unter ‚redstreamnet‘ oder ‚thered.stream‘ veröffentlicht, genutzt, um systematisch falsche Informationen über politisch kontroverse Themen zu verbreiten, mit der Absicht, unter seinem überwiegend deutschen Zielpublikum ethnische, politische und religiöse Zwietracht zu säen, unter anderem durch die Verbreitung der Narrative über radikalislamische terroristische Gruppierungen wie die Hamas. Während einer gewaltsamen Besetzung einer Universität in Deutschland durch anti-israelische Randalierer fanden Absprachen zwischen RED und den Besetzern statt, um Bilder des Vandalismus, auf denen auch Hamas-Symbole zu sehen waren, über die Online-Kanäle von RED zu verbreiten und den Besetzern so eine exklusive Medienplattform zu bieten und den gewaltorientierten Charakter des Protests zu erleichtern. Über AFA Medya unterstützt Hüseyin Doğru daher Handlungen der Regierung der Russischen Föderation, die die Stabilität und Sicherheit in der Union und in einem oder mehrerer ihrer Mitgliedstaaten untergraben und bedrohen, einschließlich indem er gewaltsame Demonstrationen indirekt unterstützt und erleichtert und koordinierte Informationsmanipulation betreibt.“ Insbesondere der drittletzte und letzte Absatz haben es meiner Ansicht nach in sich: Die Medienplattform des Sanktionierten hätte systemisch falsche Informationen (Wer hat das geprüft? Wer entscheidet darüber? Welche Informationen waren falsch?) verbreitet, um „Zwietracht“ zu sähen. Wenn man diesen Orwell’schen Newspeak in früheres Deutsch zurückübersetzt, steht da eigentlich nur: „Der Sanktionierte hat eine eigene politische Einschätzung, die vom Mainstream abweicht, verbreitet und damit an einem heiß umstrittenen nationalen Diskurs über die Israel- und Palästina-Politik der Bundesregierung (und anderer europäischer Regierungen) teilgenommen.“ Was die Essenz der Tätigkeit ist, die von der Presse- und Meinungsfreiheit geschützt wird. Und im letzten Absatz steht eigentlich: Der Sanktionierte unterstützt die (angeblichen) Handlungen der Russischen Föderation, die Stabilität und Sicherheit in der Union zu untergraben, indem er (angeblich) gewaltsame Demonstrationen (angeblich) unterstützt. Was übrig bleibt, wenn man die Unterstellungen und Verdrehungen einmal weglässt, ist: Die EU hält also nicht nur den kontroversen Meinungsaustausch, sondern sogar die Unterstützung von Demonstrationen, sobald sie nicht der Regierungslinie entsprechen, für sanktionswürdig. Oder gab es je den Vorwurf, deutsche Medien, die z.B. die „Demonstrationen gegen Rechts“ indirekt unterstützt hätten, indem sie über sie ausführlich berichtet hatten, würden dadurch die Stabilität und Sicherheit in der Union untergraben? Oder durch die sehr einseitige Berichterstattung über den Ukraine-Krieg hätten deutsche Medien „beim deutschen Zielpublikum ethnische, politische und religiöse Zwietracht“ gesät? Aber natürlich geht es hier ganz offensichtlich um die Unterdrückung der Pro-Palästina-Bewegung, da red.media eines der wichtigsten Medien in den letzten Jahren war, die ihr überhaupt eine Plattform bot und sich noch traute, ausführlich über die Proteste gegen das völkerrechtswidrige und kriegsverbrecherische Vorgehen Israels zu berichten. Red.media hat in ihrer Stellungnahme zu den Sanktionen auch ausführlich auf die Vorwürfe reagiert, diese Einlassungen fanden aber in der Sanktionsentscheidung offensichtlich keinen Eingang. Mir ist nicht bekannt, ob der Betreiber von red.media überhaupt „rechtliches Gehör“ bekommen hat, bevor er auf die Sanktionsliste gesetzt wurde. Warum diese Entwicklung so bedenklich ist Was allgemein so bedenklich an dieser Entwicklung ist, ist, dass wir hier ein Verbot einer Medienplattform erleben, die nicht durch eine strafrechtliche Verurteilung gerechtfertigt ist, dem kein Verfahren mit einer auch nur halbwegs objektiven Beweisaufnahme und -würdigung vorausgegangen ist und das auch durch kein legitimiertes Gericht ausgesprochen wurde; geschweige denn, dass das Recht auf Pressefreiheit in irgendeiner Form in der Abwägung beachtet wurde, wie es grundrechtlich eigentlich absolut geboten wäre. Es genügt, dass mehrere deutsche Zeitungen private Ermittlungen aufnehmen und die Ergebnisse dieser Ermittlungen dann mit Spekulationen und Vermutungen mischen. Dies wird dann als „Wahrheit“ von der vorherigen US-amerikanischen Regierung wiederholt und damit (zumindest machtpolitisch) „validiert“. Und diese Vorwürfe werden dann wiederum (vermutlich) zur Grundlage einer EU-weiten Sanktionierung. Es wird also der nationale Rechtsweg mit Ermittlungsverfahren, gerichtlichem Urteil, mit seinen Grenzen und Schranken, die die Rechte des „Angeklagten“ sichern sollen, umgangen, der nationale Grundrechtsschutz ausgehebelt und die Entscheidung über Zensur oder nicht auf die Medien als Hobby-Verfassungsschutz und Hobby-Staatsanwaltschaft und supranationale Organisationen wie die EU als Hobby-Richter verlagert. Titelbild: Screenshot Red.Media Mehr zum Thema: Schwarz-Rot: Ein Koalitionsvertrag der Kontrolle und der Zensur Die EU-Sanktionen gegen Lipp und Röper sind ein Skandal Willkommen in der Clownswelt Die Twitter Files und der Censorship Industrial Complex: So geht Zensur heute Versuch der Einflussnahme ausländischer Staaten auf Journalisten in Deutschland – Was sagt die Bundesregierung?
19:23
Verschiebebahnhof – Das Sondervermögen Infrastruktur ist gar nicht so besonders
Die neue Bundesregierung möbelt Deutschlands Schienen, Brücken und Schulen wieder auf!? Von wegen: Was ein milliardenschweres Schuldenpaket an Investitionen verspricht, soll hoppladihopp aus dem regulären Bundeshaushalt weggekürzt werden. So verlangen es der neue Finanzminister und die „Zeitenwende“. Militärs und Rüstungskonzerne dürfen dagegen aus dem Vollen schöpfen. Und der „kleine Mann“? Der darf die Zinsen der Kreditgeber begleichen. Von Ralf Wurzbacher. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Für die schwäbische Hausfrau wäre ein Sondervermögen ein Graus. Abermilliarden Euro raushauen für Töpfe, Pfannen, Teller, das Ganze auch noch auf Pump, und hoffen, dass sich das irgendwann irgendwie rentiert. Das brächte sie gewiss um ihr Seelenheil. Deutschlands neue Regenten sind nicht so kleingeistig. Sie pumpen Unsummen in die Aufrüstung, Unsummen in die Infrastruktur, so als schisse der Bundesadler Dukaten, und schlafen den Schlaf der Gerechten. Motto: Reinbuttern, dass sich die Balken biegen beziehungsweise nicht mehr biegen, damit bald jede Brücke im Land einer Panzerkolonne standhält. Als im März eine Kurzzeit-Kenia-Koalition praktisch über Nacht verfügte, den jahrzehntelangen Investitionsstau mit einem Finanzpaket historischer Dimension und qua Grundgesetzänderung abzuhaken, staunte das Publikum nicht schlecht. Meinen die das wirklich ernst? Bringen die die Republik wirklich auf Vordermann? Oder hat das Ganze vielleicht einen Haken? Also neben dem, dass vor allem die vermeintlich abgehalfterte Bundeswehr mit nahezu grenzenloser „Ertüchtigung“ rechnen darf. Werden tatsächlich mit demselben Eifer demnächst auch die kaputten Schienen, Bahnhöfe und Schulen in Schuss gebracht? Abwarten … Geben und Nehmen Siehe da: Bis zur Klärung der Fragen musste man sich gar nicht lange gedulden. Dieser Tage ist der neue Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) mit den Etatplanungen für das laufende und kommende Jahr befasst. Wie üblich zu solcher Gelegenheit hat er seinen Ressortkollegen Bescheid gestoßen, den Gürtel eng zu schnallen. „Wir müssen sparen“, verbreitete er zu Wochenanfang über das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). Jedes Ministerium habe zu liefern und: „Sich zurückzulehnen, weil wir das 500-Milliarden-Sondervermögen für Infrastruktur haben und die Verteidigungsausgaben jetzt von der Schuldenbremse ausgenommen sind, geht nicht.“ Warum eigentlich nicht? Und was hat das eine mit dem anderem zu tun, also der reguläre Haushalt mit dem von Bundestag und Bundesrat gebilligten Schuldenpaket? Die Antwort findet sich in einem Rundschreiben von Finanzstaatssekretär Steffen Meyer an die Fachressorts und obersten Bundesbehörden. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) und das Handelsblatt (hinter Bezahlschranke) haben zu Wochenanfang aus dem sechsseitigen Papier zitiert. An einer Stelle heißt es: „Die Einzelpläne sind um die Maßnahmen, die zukünftig im Sondervermögen gemäß Artikel 143h des Grundgesetzes finanziert werden, abzusenken. Sie reduzieren den jeweiligen Plafonds in gleichem Maße.“ Ebenso seien die Kalkulationen des Wirtschafts-, des Verkehrs- und des Forschungsministeriums „um die Maßnahmen, die zukünftig im Klima- und Transformationsfonds finanziert werden, abzusenken – jeweils in Höhe der bisherigen Ansätze“. Von wegen „zusätzlich“ Das erscheint einigermaßen unstimmig. Denn nimmt man den Wortlaut besagten Artikels, der eigens frisch in der Verfassung verankert wurde, dann taucht darin das Wörtchen „zusätzlich“ auf. Konkret: „Der Bund kann ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 mit einem Volumen von bis zu 500 Milliarden Euro errichten.“ Und weiter: „Zusätzlichkeit liegt vor, wenn im jeweiligen Haushaltsjahr eine angemessene Investitionsquote im Bundeshaushalt erreicht wird.“ „Zusätzlich“ ist nur dann etwas, wenn es an anderer Stelle nicht wieder weggenommen wird. Das gebietet die Logik. Aber logisch ist nicht die Sache von Schwarz-Rot. Dafür versteht sie sich bestens auf Augenwischerei. Sie behauptet, „wir machen die Infrastruktur flott“, kürzt aber das Wenige, was bisher an Investitionen in dieselbe geflossen ist, einfach in dem Umfang weg, wie Geld aus dem Sondervermögen mobilisiert wird. So etwas nennt man „Verschiebebahnhof“. Als einem der ersten Kritiker war dies dem Forum Ökologische Marktwirtschaft (FÖS) nach Vorlage des Koalitionsvertrags aufgefallen. „Die Mittel aus dem Sondervermögen Klima drohen in einen Verschiebebahnhof zu geraten, was am Ende sogar zu weniger statt mehr Klimaschutzinvestitionen führen könnte“, monierte der Verband am 10. April in einer Medienmitteilung. Der nächste Wahlbetrug Die Sorge teilen noch andere. „Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Milliarden aus dem Infrastruktur-Sondervermögen reguläre Investitionen aus dem Haushalt ersetzen werden“, erklärte gegenüber den NachDenkSeiten der Generalsekretär des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), Christian Leye. „Das wäre der nächste Wählerbetrug von Merz!“ Ähnlich äußerte sich die Bundesvorsitzende von Die Linke, Ines Schwerdtner, im NDS-Gespräch. „Der Klima- und Transformationsfonds wird zum Verschiebebahnhof und finanziert Posten, die nichts mit Klimaschutz zu tun haben.“ Die Grünen hätten „sich über den Tisch ziehen lassen – und die Koalition nutzt das schamlos aus“. Zur Erinnerung: Die Grünen-Partei rühmt sich damit, bei den Verhandlungen mit Union und SPD durchgesetzt zu haben, dass 100 Milliarden Euro vom 500-Milliarden-Euro-Kuchen für Infrastruktur in den kommenden zehn Jahren in besagten Klima- und Transformationsfonds (KTF) fließen und damit dem klimagerechten Umbau der Wirtschaft zugutekommen würden. Allerdings fehlt es an einer gesetzlichen Vorgabe, ab welchem Punkt dabei das Sondervermögen zum Einsatz kommt. Die deutsche Sektion des World Wide Fund for Nature (WWF) hat auf diese Problematik in einem am Dienstag vorgelegten Gutachten hingewiesen. Zitiert wird darin Moritz Schularick, Präsident beim Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW): „Wichtiger, als jetzt bestimmte Namen für bestimmte Töpfe zu erfinden“, ist für ihn, „eine sinnvolle Regelung zu finden, wie festgestellt wird, dass dieses Sondervermögen für Infrastrukturausgaben, wenn es kommt, nicht Investitionsausgaben im regulären Haushalt verdrängt und da Verschiebebahnhof gespielt wird“. Nichts da mit grüner Energiewende Ein Beispiel: Die Regierung plant eine allgemeine Strompreisreduzierung in der Größenordnung von fünf Cent pro Kilowattstunde, was allein bis zu 20 Milliarden Euro jährlich kosten könnte. Das Geld dafür soll laut genanntem Schreiben von Staatssekretär Meyer aus dem Sondervermögen abgezweigt werden. Aber wieso läuft eine Strompreissenkung unter Investition in die Infrastruktur? Jedenfalls bekräftigt Rechtsanwältin Roda Verheyen, die die WWF-Analyse erarbeitet hat, Mittel aus dem Sondervermögen dürften „keinesfalls für Zuschüsse zum Strompreis und Ausgleichszahlungen verwendet werden“. Und wenn doch? Dann wären die zehn Milliarden Euro, die der KTF per anno aus dem Schuldentopf beziehen soll, schon komplett aufgebraucht. Und nichts bliebe mehr übrig für die grüne Industriewende. Die Mittel aus dem Infrastrukturtopf sind laut Meyers Rundbrief vor allem für Investitionen in Bahnhöfe, das Schienennetz, die Digitalisierung der Schiene, die Modernisierung von Brücken, zur Steigerung der Energieversorgungssicherheit, zum Ausbau des Breitband- und des Mobilfunknetzes und dafür gedacht, die Verwaltung zu digitalisieren und den Wohnungsneubau anzuschieben. Alles schön und gut. Was aber, wenn es nach den drohenden Schiebereien bei einem Nullsummenspiel bleibt und nur kümmerlich mehr investiert wird? 2024 waren im Bundeshaushalt für „investive Aufgaben“ knapp über 70 Milliarden Euro veranschlagt. Läuft es schlecht, könnte davon ein beträchtlicher Teil auf das Konto des Sondervermögens umgebucht, aber kaum etwas im Land besser werden. Alles auf Hochrüstung Einen entscheidenden Unterschied macht die Sache aber doch. Investitionen aus dem Kernhaushalt speisen sich überwiegend aus Steuermitteln, also Geld, das der Staat hat. Dagegen hantieren Bund und Länder bei einem Sondervermögen mit Geld, das sie nicht haben, woran alle möglichen Kreditgeber kräftig mitverdienen: Banken, Hedgefonds, Versicherungen, Vermögensverwalter, darunter auch Friedrich Merz‘ früherer Arbeitgeber BlackRock. Die NachDenkSeiten hatten bereits zu mehreren Anlässen die Mitte der 2010er-Jahre von marktliberalen Ökonomen und Vertretern der Finanzbranche ausgeheckte Strategie thematisiert, ureigene staatliche Aufgaben zu privatisieren und in Schattenhaushalte auszulagern – zwecks Schaffung hochprofitabler Anlagemöglichkeiten „zur Stärkung von Investitionen in Deutschland“, Stichwort Fratzscher-Kommission. Aus dieser Perspektive lassen bröckelnde Schulen und wankende Brücken „Investorenherzen höher schlagen“. Wie muss es sich erst anfühlen, wenn schon bald vielleicht sämtliche öffentlichen Investitionen aus Schuldentöpfen bezahlt werden? Carl Waßmuth, Sprecher beim Verein „Gemeingut in Bürgerinnenhand“ (GiB), schwant Schlimmes. „Es zeichnet sich ab, dass das schwarz-rote Gerede von den Investitionen in die Infrastrukturen nur Lyrik war, um Schulden machen zu dürfen – vor allem für mehr Rüstung“, bemerkte er gegenüber den NDS. Nach den Vorstellungen von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sollen Deutschlands Ausgaben fürs Militär langfristig fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entsprechen, wobei er bis 2032 eine Quote von 3,5 Prozent erreichen will. Hinzu kommen müssten „verteidigungsbezogene Ausgaben“ in Höhe von 1,5 Prozent der Wirtschaftsleistung – für militärisch nutzbare Infrastruktur wie Bahnstrecken, panzertaugliche Brücken und erweiterte Häfen. Freie Fahrt nach Polen Ergo setzt die GroKo schon jetzt Prioritäten. Wie heißt es so schön in ihrem Koalitionsvertrag: „Zentrale Teile der Verkehrsinfrastruktur nach Polen und der Tschechischen Republik werden zügig ausgebaut.“ Soldaten und Kriegsgerät müssen schließlich im Ernstfall ruckzuck an die NATO-Ostgrenze befördert werden. Das verlangt die „Zeitenwende“, und die Großmobilmachung zum großen Knall ist schon in vollem Gange. Wer will, kann ja davor noch in Warschau und Prag Urlaub machen. Vom Bahnaufrüsten hätte dann sogar der einfache DB-Kunde etwas. Das wäre dann immerhin ein doppelter Nutzen, von wegen Dual-Use. Man kann sicher sein, dass das Geld dafür aus dem Sondervermögen Infrastruktur gewonnen wird, wie vieles mehr, was primär der „Kriegsertüchtigung“ dient. „Damit könnte am Ende noch weniger für echte, zivile Investitionen übrigbleiben“, fürchtet BSW-Politiker Leye. „Während die Wirtschaft weiter stagniert, wird die Bundesregierung offenbar den Investitionsstau in dringend benötigte Infrastruktur und Modernisierung einfach weiter verschleppen.“ Gleichzeitig drohten die Zinslasten für die gigantischen Aufrüstungspakete den Haushalt weiter zu belasten, „was den Spar- und Kürzungsdruck verschärfen wird“, so Leye. „Die arbeitenden Menschen werden bei Rente, Gesundheit und Pflege den Preis zahlen für die Bewaffnung des Landes.“ Vermögensteuer jetzt! Wie GiB-Sprecher Waßmuth vorrechnete, lag die staatliche Investitionsquote der BRD Anfang der 1990er-Jahre bei über drei Prozent des BIP. Bis 2005 ist sie dann auf unter 2,5 Prozent gefallen, verharrte 25 Jahre lang auf diesem Niveau und rutschte bisweilen sogar unter zwei Prozent. „Mit anderen Worten: Weil Deutschland seinen Infrastrukturen langjährig ein Prozent vom BIP verweigert hat, haben wir jetzt diesen Investitionsstau.“ Aber der werde nicht wirklich aufgelöst, denn „die Bettdecke wird nur auf der einen Seite hochgezogen und auf der anderen weggezogen“. Im Endergebnis profitierten „allein Banken und große Kapitalanleger, denen der Staat jetzt viele Zinsen zahlen wird“. Der Aktivist kennt das probate Gegenmittel: „Wir brauchen echte zusätzliche Einnahmen und echte zusätzliche Investitionen, insbesondere in den Kommunen.“ Und woher das Geld dafür nehmen? „Das geht nur mit einer Vermögensteuer.“ Das fände selbst die schwäbische Hausfrau „echt guad“. Titelbild: Thorsten Schier/shutterstock.com
14:11
Die EU-Sanktionen gegen Lipp und Röper sind ein Skandal
Die EU hat jetzt auch zwei deutsche Journalisten, die im Ausland leben, auf die Sanktionsliste gesetzt. Der Schritt ist ein Schlag gegen die Meinungsfreiheit und andere Grundrechte. Zusätzlich illustriert der Vorgang die Heuchelei der EU bezüglich ihrer eigenen Phrasen von der „Freiheit“. Vermutlich folgt das Vorgehen dem Motto: „Bestrafe einen, erziehe Hundert“. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Die Europäische Union hat am Dienstag ihr mittlerweile 17. Sanktionspaket gegen Russland beschlossen – erstmals betroffen sind auch zwei deutsche Staatsbürger, wie Medien berichten. Im Fokus stehen demnach die Journalistin Alina Lipp und der Autor Thomas Röper. Beide sollen laut EU „russische Propaganda“ verbreitet und durch ihre Berichterstattung zu „destabilisierenden Aktivitäten“ beigetragen haben. Auf die konkreten Inhalte der Sanktionen und ihre Folgen geht Thomas Röper etwa in diesem Artikel ein: „Diese Sanktionen bedeuten laut dem ‘BESCHLUSS (GASP) 2024/2643 DES RATES‘ der EU erstens, dass ich nicht mehr in EU-Länder einreisen darf. Für die Regelung gibt es eine Ausnahme, die lautet, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst entscheiden darf, ob ich noch nach Deutschland einreisen darf. Für alle anderen EU-Staate gilt für mich nun eine Einreisesperre.“ Röper ergänzt: „Zweitens bedeutet das für mich laut dem Beschluss: ’Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die im Besitz oder im Eigentum (von Thomas Röper) stehen oder von (Thomas Röper) gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.’ Und es bedeutet weiter für alle anderen Menschen: ‚(Thomas Röper) dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.‘“ Das sind massive und inakzeptable Angriffe auf Grundrechte. Röper weist zusätzlich darauf hin, dass er allen Spendern rate, erst einmal nichts mehr zu spenden, weil sie sich sonst der Umgehung von Sanktionen schuldig machen könnten. In dem Artikel zählt er weitere, teils gravierende Folgen für seine Tätigkeit und seine Person auf, weitere Infos hat er in seinem aktuellen Podcast zusammengefasst. Eine Erklärung der EU zu den Sanktionen findet sich unter diesem Link. „Bestrafe einen, erziehe Hundert“ Es geht bei der Beurteilung des Vorgehens der EU nicht um die journalistischen Inhalte von Lipp und Röper, sondern es geht um ein wichtiges Prinzip. Würde es um die konkreten Inhalte gehen, dann wäre ein weites Feld der Sanktionierung eröffnet: Viele Bürger würden ein „destabilisierendes“ Verhalten und den Vorwurf der Propaganda eher mit einigen Vertretern aus den deutschen und europäischen Mainstream-Medien in Verbindung bringen: Schließlich erschüttern die mit ihrem Trommeln für Waffenlieferungen und einen sinnlosen Wirtschaftskrieg die hiesige Gesellschaft viel stärker, als es Lipp und Röper je könnten, schon allein wegen der stärkeren Reichweite. Oder wie sieht es mit radikalen pro-israelischen Stimmen aus, die den Krieg in Gaza anfachen? Diese Fragen sollen nur die doppelten Standards illustrieren, sie sind rein rhetorischer Natur: Ich fordere keineswegs die Sanktionierung von irgendeinem Medium oder irgendeinem Journalisten. Röper und Lipp machen aus ihren politischen Präferenzen kein Geheimnis. Diese Präferenzen stimmen zum Teil nicht mit meiner Meinung überein, aber meine Meinung ist bei dieser Frage genauso irrelevant wie die Meinung von EU-Bürokraten. Solange kein Gericht nach seriösen Kriterien Tatbestände wie persönliche Beleidigung oder Volksverhetzung etc. festgestellt hat, sind die Beiträge der Beiden als gegebenenfalls der eigenen Meinung widersprechende Standpunkte hinzunehmen und auszuhalten. Und ohne ein solches seriöses Urteil bleibt das „Urteil“ der EU über die beiden Journalisten selber ein Akt der Propaganda. Zumindest im Fall Alina Lipp stehen zwar fragwürdige Ermittlungen wegen „Kriegspropaganda“ im Raum, die wegen fehlendem Zugriff aber ruhen und darum ebenfalls keine Orientierung geben. Und wenn der Koloss EU angeblich Angst vor einer „Destabilisierung“ durch die beiden Blogger hat, dann sagt das auch viel über die innere Verfassung des Staatenbündnisses und dessen offensichtlich bröckelnde Stabilität. Auf diesen Punkt ist Thomas Röper in diesem Artikel eingegangen. Die Entscheidung der Sanktionierung folgt meiner Meinung nach dem Motto „Bestrafe einen, erziehe Hundert“, Einschüchterung auch in Richtung anderer Alternativmedien ist sicherlich erwünscht. Und wer nun meint, dieser Skandal sei keiner, weil es ja „die Richtigen“ trifft, der hat das Risiko nicht erfasst, das in der selektiven Einschränkung der (allgemeinen) Meinungsfreiheit und in der Beschädigung von wichtigen Prinzipien der Gleichbehandlung und anderen Grundrechten liegt. Titelbild: ANDRANIK HAKOBYAN / Shutterstock
05:43
Stimmen aus Ungarn: Merz – Vom ewigen Verlierer zum gescheiterten Kanzler?
Der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz versucht, mit einem harten Russland-Kurs und der Nutzung des Ukraine-Krieges als Hebel europäische Führung zurückzugewinnen und die deutsche Wirtschaftskrise zu lösen. Merz setzt damit Deutschland und die EU einem hohen Risiko aus und könnte sich selbst als ewigen Verlierer der deutschen Politik etablieren. Ein Beitrag von Gábor Stier. Aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Der beharrliche Friedrich Merz, der von Angela Merkel lange Zeit in den Hintergrund gedrängt wurde, sich deshalb in der Geschäftswelt bei einem US-amerikanischen multinationalen Unternehmen [BlackRock, Anm. d. Red.] tröstete und erst im dritten Anlauf an die Spitze der Partei gewählt wurde, erreichte schließlich den Gipfel. Doch als Kanzler beginnt er aus einer schwierigeren Position als vielleicht jeder seiner Vorgänger. Er gewann von vornherein mit dem zweitschlechtesten Ergebnis in der Geschichte der CDU und manövrierte sich im Wahlkampf in eine Lage, in der er im Wesentlichen nur mit den stark geschwächten Sozialdemokraten eine Koalition bilden konnte. Als die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen waren, wurde die CDU in der Popularität in beispielloser Weise von der in politische Quarantäne gehaltenen AfD überholt. Doch als ob das Merz’ Antritt nicht schon genug belastet hätte, erhielt der CDU-Chef bei seiner Wahl zum Kanzler eine historische Ohrfeige. Im ersten Wahlgang bekam er keine Mehrheit. So etwas gab es im Bundestag seit 1949 nicht. Danach ging er bereits als geschwächter Kanzler auf seine erste Auslandsreise nach Paris. Zur tiefen Krise des deutschen Wirtschafts- und Strategiemodells, das durch die Migrationsfrage stark belastet ist, kam die politische Unsicherheit um den Amtsantritt des Kanzlers hinzu. Das sind keine guten Nachrichten für die desorientierten Deutschen, aber auch nicht für die Europäer. Denn wie man es auch dreht und wendet, Deutschland hat die Europäische Union zwar seit fast einem Jahr mit seinen inneren Problemen allein gelassen, ist aber immer noch ihre Führungsmacht und ihr Motor. Seine jetzige Krise bedeutet einen Rückschritt für das gemeinsame europäische Projekt. Der Handlungsspielraum von Merz ist in dieser Situation ziemlich eng. Er ist von vornherein der unbeliebteste Kanzler der jüngeren Geschichte, die AfD sitzt der CDU/CSU im Nacken, sodass die neue deutsche Regierung ihre Amtszeit ohne Schonfrist beginnen musste. Nicht nur die geopolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen setzen sie unter Druck, sondern auch die deutsche Gesellschaft, die spürbar skeptisch ist und wenig Vertrauen in den Erfolg der alt-neuen politischen Kraft hat. Und wie die Abstimmung im Bundestag zeigte, gibt es auch in den Reihen der Partei Zweifler. Stabilität ist also nicht gegeben, sie muss vom neuen Kanzler erst geschaffen werden. Merz’ Offensive: Europäische Führung und Eskalation mit Russland Die neue Berliner Führung trat zudem in einer Zeit ihr Amt an, in der die Europäische Union mit der größten strategischen und geopolitischen Unsicherheit seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren konfrontiert ist. Am Rande Europas tobt ein Krieg, der nicht nur die Sicherheit des Kontinents, sondern aufgrund der fehlerhaften Politik auch seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sichtbar schwächt. Zudem hat sich das transatlantische Verhältnis dramatisch verschlechtert. Merz versucht, diese tiefe und vielschichtige Krise zu überwinden und gleichzeitig die Führung von den Briten und Franzosen zurückzuerobern, die im Machtvakuum das europäische Steuerrad an sich gerissen haben. So will er alle in der Frage der Haltung zu Russland und des Krieges in der Ukraine übertönen. Er stellt Ultimaten, setzt Moskau Fristen, droht mit der Lieferung von Taurus-Raketen und Sanktionen. Mit diesem etwas kindischen oder eher verzweifelten Verhalten, das den Anschein von Selbstvertrauen erweckt, versucht der Kanzler, die Aufmerksamkeit auf sich, auf Deutschland und auf das an den Rand gedrängte Europa zu lenken – und gleichzeitig von allem abzulenken, was den neugierigen und misstrauischen Blick auf sich zieht und das Image eines starken europäischen Anführers trübt. Und ähnlich wie die von postimperialen Träumen getriebenen Briten und die nach europäischen Machtambitionen strebenden Franzosen scheint er zu glaubten, dass der Konflikt in der Ukraine eine hervorragende Gelegenheit ist, hart durchzugreifen und die globale Initiative zurückzuerobern. In der veränderten globalen Landschaft erweist sich dieses Vorgehen als realitätsferne Illusion. Der europäische Mainstream, verhaftet in überholten Narrativen, verkennt die Zeichen der Zeit. Während die US-Regierung bereits die aussichtslose Lage in der Ukraine erkannt hat und sich zurückzieht, setzen die europäischen „Willigen“ zynischerweise auf eine Fortsetzung des Krieges, um Zeit für den Aufbau eigener Verteidigungsfähigkeiten zu gewinnen und Russland zu schwächen. Zynischerweise wird die russische Gefahr geschürt und aufrechterhalten, um in den westlichen Gesellschaften die Akzeptanz für die Lasten des Wiederaufbaus der in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigten Verteidigung und der notwendigen Aufrüstung zu erzeugen. Die Militarisierung, die über moralische Aspekte hinaus wenig sinnvolle, aber beharrliche Unterstützung der Ukraine und die damit verbundene Aufnahme enormer gemeinsamer Schulden beschleunigen die Föderalisierung der Europäischen Union auf wohlüberlegte und unumkehrbare Weise. Merz versucht nun, sich an die Spitze dieser europäischen Politik zu stellen, die von falsch verstandenen Interessen ausgeht, und das Steuerrad zurückzuerobern. Merz’ Kurs: Zwischen Rhetorik und Realitätsverlust Für Merz ist die Ukraine-Krise paradoxerweise auch eine Art Wendepunkt. Die vehemente kriegsbefürwortende Haltung des neuen, von BlackRock „delegierten“ deutschen Kanzlers entspringt auch der oben genannten Denkweise, dass die EU stark verschuldet werden muss, um endlich eine vollständige finanzielle Einheit mit zentraler Besteuerung zu schaffen. All dies wurde durch die Programmrede von Friedrich Merz im Bundestag veranschaulicht, in der er ausführlich über den Krieg in der Ukraine und die Sicherheitsherausforderungen für Europa sprach. Laut seinen Worten greifen 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im 35. Jahr der deutschen Wiedervereinigung die Feinde der Freiheit und der liberalen Demokratie diese stärker an als je zuvor. In Bezug auf den fälschlicherweise zu einer existenziellen Frage gemachten Ukraine-Konflikt erklärte Merz, dass der Ausgang des Krieges nicht nur über das Schicksal der Ukraine entscheidet, sondern auch darüber, ob Recht und Ordnung in Europa und der Welt herrschen oder ob militärische Gewalt, Tyrannei und das Recht des Stärkeren gelten. Laut Merz steht mit dem Krieg der Frieden des gesamten Kontinents auf dem Spiel. In Bezug auf den Ukraine-Krieg erklärte Merz, dass Deutschland keine Kriegspartei, aber auch nicht neutral sei. Aus der Lagebeurteilung zog er schließlich den Schluss, „dass wir in der Lage sein müssen, uns zu verteidigen, damit wir uns nicht verteidigen müssen“. Aus all dem können wir den Schluss ziehen, dass sich mit dem Sieg der CDU die Berliner Politik, die die deutschen Interessen falsch interpretiert oder ignoriert, nicht ändern wird. Berlin will sich, eingebettet in den europäischen Mainstream, nicht eingestehen, dass Trump und sein Team, die aufgrund ideologischer Gegensätze fast als Feinde behandelt werden, die Veränderungen in der Welt richtig einschätzen, während Europa, irgendwo in der Vergangenheit verhaftet, Herausforderungen ideologisch statt interessenorientiert angeht und, anstatt seine eigenen Probleme zu lösen, die Rolle des Verteidigers und Führers der progressiven liberalen Ordnung von den sich abwendenden USA übernehmen will. Doch diese Welt existiert nicht mehr. Merz verkennt jedoch auch, dass ein bedeutender Teil der deutschen Gesellschaft die AfD gewählt hat, weil viele kein Vertrauen mehr in die traditionellen Parteien haben. Und das zu Recht, denn anstatt die deutsche Deindustrialisierung, den dramatischen Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit, den revolutionären grünen Übergang und die Folgen der Migration zu bewältigen und die bisherige verfehlte Politik zu korrigieren, werden wieder nur kosmetische Maßnahmen vorgenommen. Die Krise der deutschen Wirtschaft wird dadurch nicht gelöst. Die Ankurbelung der Verteidigungsindustrie und die damit verbundene Aufhebung der Schuldenbremse sind für die strukturellen Probleme allein keine Lösung. Zudem droht die fehlerhafte Ukraine-Politik Deutschland unmittelbar in einen eskalierenden globalen Konflikt zu verwickeln. Der Beitrag ist auf Ungarisch auf moszkvater.com erschienen. Titelbild: Shutterstock / Ryan Nash Photography
09:52
Bundesregierung sieht kein Problem in Kampfausbildung für deutsche Neo-Nazis durch ukrainische Armee
Das „Deutsche Freiwilligenkorps“ (DFK), welches sich vor allem aus dem Umfeld der Neonazi-Partei „Der 3. Weg“ rekrutiert, wurde kürzlich offiziell in die ukrainische Armee integriert, genauer in das 49. Sturmbataillon „Karpaten-Sitsch“. Mit der Integration des Freiwilligenkorps in die offiziellen Strukturen der ukrainischen Armee gehen der Zugang zu westlichen Waffen und Ausbildung nach NATO-Standard einher. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob es Kanzler Merz beunruhigt, dass jetzt Dutzende gewaltbereiter deutscher Neo-Nazis von der ukrainischen Armee ausgebildet und mit Waffen aus US- und EU-Produktion versorgt werden und ob Kiew die Bundesregierung vor diesem Schritt informiert hat. Die „Antwort“ wird selbst hartgesottene BPK-Zuschauer überraschen. Von Florian Warweg. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Hintergrund Seit April 2025 gehört das „Deutsche Freiwilligenkorps“ (DFK), wie die auf rechtsradikale Bewegungen in der Ukraine spezialisierte Journalistin Susann Witt-Stahl für die junge Welt berichtet („Kiew gliedert deutsches Neonazikorps in die reguläre ukrainische Armee ein“), dem 49. Sturmbataillon „Karpaten-Sitsch“ der ukrainischen Bodentruppen an. „Karpaten-Sitsch“ wiederum wurde 2014 nach dem Maidan-Putsch (siehe hierzu den NDR-Panorama-Beitrag von März 2014 „Putsch in Kiew: Welche Rolle spielen die Faschisten?“) von Mitgliedern der rechtsradikalen Swoboda-Partei und der Wehrsportgruppe „Sokil“ als Freiwilligeneinheit gegründet, zwischenzeitlich aufgelöst, 2022 reaktiviert und in die ukrainische Armee integriert. Der Kampf gegen „Putins Neobolschewiken“ Das DFK rekrutiert sich bis heute aus dem Umfeld der rechtsradikalen Partei „Der III. Weg“, die 2013 von ehemaligen NPD-Funktionären gegründet wurde. Die Neo-Nazis des III. Weges unterhalten seit Jahren enge Kontakte zu Swoboda, Sokil sowie zur Asow-Bewegung. Deren Chef Matthias Fischer zieht auf Reden regelmäßig über „Putins Neobolschewiken“ her und bittet um Spenden, „damit unsere Truppen da drüben besser dastehen“. Das Asow-Regiment wird als „bewaffneter Arm der nationalen Bewegung, der sich in einem heldenhaften Kampf um die Freiheit“ befinde, gepriesen. Russland dagegen wird in Publikationen und Reden des III. Wegs als „Vielvölkerstaat“, in dem Asiaten, Juden und Muslime ihren Platz hätten, gegeißelt. Die Nationalisten in der Ukraine hätten mittelfristig das größte Potenzial in Europa, so eine weitere Begründung der rechtsextremen Partei für die materielle und personelle Unterstützung. Die dem deutschen Innenministerium unterstehende Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) definiert die Partei als „eine rechtsextreme Partei in Deutschland mit neonazistischer Prägung“ und erklärt in einer Publikation von 2024: „Der Verfassungsschutz warnt seit Jahren vor der gefährlichen Rolle, die die Neonazi-Partei spielt…“ Häkampftraining für deutsche Neonazis Aus diesem Umfeld rekrutiert sich wie schon angesprochen das DFK, welches jetzt in die offiziellen Strukturen der ukrainischen Armee aufgenommen wurde. Deren Gründer und Sprecher Stephan K. versprach in diesem Zusammenhang in einem Video zur Werbung von DFK-Kämpfern für den Krieg in der Ukraine: „Ihr erhaltet eine komplette Ausrüstung, technisches Training, medizinische Versorgung und Vorbereitung für den Häkampf.“ Das aus Neonazis bestehende "Deutsche Freiwilligenkorps" in der #Ukraine kämpft dort weiterhin für ihr Projekt eines "weißen Europas". Ein Kämpfer posiert hier nicht nur mit dem rassistischen Slogan der sog. "fourteen words", sondern auch mit dem IB-Slogan "Defend Europe". https://t.co/f0lcBxuyO2 pic.twitter.com/aNIXcSAJ73 — Rechercheplattform zur Identitären Bewegung (@IbDoku) October 9, 2023 Dass DFK gratulierte auf seinem offiziellen Social-Media-Kanal am 20. April dieses Jahres, da war es bereits in die ukrainische Armee integriert, Adolf Hitler ganz selbstverständlich zum Geburtstag („Wiegenfest“). Zum 8. Mai veröffentlichte das DFK eine Erklärung, in der man verkündete, dass man in Deutschland den 8. Mai 1945 nicht vergessen habe und verlangte vom deutschen Volk „selbigen Mut, selbige Treue, selbige Opferbereitschaft“, wie sie einst Hitlers Soldaten bewiesen hätten – „für eine strahlende Zukunft im Glanze der alten Herrlichkeit“. Desweiteren wurde auf dem Telegram-Kanal des „Korps“ anlässlich des 80. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs ein Archiv-Foto von 1945 veröffentlicht mit dem Slogan „Wir kapitulieren nie“ und dem Kommentar „Der Kampf geht weiter“. Gegenüber den NachDenkSeiten erklärte Witt-Stahl, angesprochen auf ihre Bewertung der entsprechenden Antwort der Bundesregierung in der BPK vom 21. Mai: „2024 hatte die Bundesregierung diesen Kräften noch „eine (abstrakte) Gefährdungsrelevanz“ bescheinigt, nun ist diese sehr konkret. Als lupenreine Hitlerfaschisten wollen die DFK-Kämpfer wettmachen, was die Rote Armee vor 80 Jahren vorerst beendet hatte – nur dieses Mal mit hochmodernen Waffen, die ihnen NATO-Länder zur Verfügung stellen: Ihr Bataillon ist beispielsweise mit US-amerikanischen schweren Maschinengewehren Browning M2 und Maschinengranatwerfern Mk 19 ausgerüstet.“ Reichsbürger-Opis pfui – Kampfausbildung und NATO-Waffen für deutsche Neonazis hui? Vor dem skizzierten Hintergrund des DFK mutet es mindestens bizarr an, mit welcher Indifferenz die Bundesregierung Fragen nach diesen deutschen Neo-Nazis und deren Kampfausbildung durch die ukrainische Armee abwimmelt. Was denkt Kanzler Merz eigentlich, wohin diese Neo-Nazis mit dann umfangreicher Kampferfahrung und Ausbildung zurückkehren, wenn der Krieg in der Ukraine oder auch nur deren Kampfeinsatz gegen „Putins Neobolschewiken“ zu Ende geht? Wirklich absurd wird die Haltung von Regierungssprecher und Auswärtigem Amt allerdings, wenn man bedenkt, mit welchen verbalen und rechtlichen Geschützen man die Verhaftung der Reichsbürger-Opas und -Omas begleitet hat. In dem Fall war jedes gefundene Jagdgewehr aus dem 19. Jahrhundert Beleg für die Gefährlichkeit der „Staatsstreich“-Pläne dieser Gruppe. Wenn aber junge, hochideologisierte deutsche Neo-Nazis Kampfausbildung und Erfahrung in der ukrainischen Armee erhalten – dann herrscht plötzlich Schweigen im Walde. Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 21. Mai 2025 Frage Warweg Das Deutsche Freiwilligenkorps, welches sich vor allem aus dem Umfeld der Neonazipartei Der III. Weg rekrutiert, wurde kürzlich offiziell in die ukrainische Armee integriert, genau in das 49. Sturmbataillon „Karpaten-Sitsch“, welches wiederum 2014 von der rechtsradikalen Swoboda-Partei gegründet wurde. Mit der Integration dieses Freiwilligenkorps in die ukrainische Armee hätten die Neonazis dann zumindest laut dem Sprecher Zugang zu aus EU und USA gelieferten Waffen sowie zu Ausbildung nach NATO-Standard. Insbesondere das Häkampftraining wurde hervorgehoben. Da würde mich interessieren: Beunruhigt es den Kanzler eigentlich, dass jetzt dutzende gewaltbereite deutsche Neonazis von der ukrainischen Armee mit westlichen Waffen und Militärausbildung nach NATO-Standard versorgt werden? Wenn ja, was plant er dagegen zu unternehmen? Regierungssprecher Kornelius Der Bundeskanzler hat keine Kenntnis vom Einsatz dieser Einheiten und vor allem nicht von ihrer Bewaffnung. Zusatzfrage Warweg Hat die ukrainische Seite eigentlich vor dieser Integration in die offiziellen Strukturen der ukrainischen Armee, die im April standfand, die deutsche Seite darüber informiert? Die Frage geht im Zweifel an das Auswärtige Amt. Der Kanzler ist ja anscheinend nicht informiert. Wagner (AA) Herr Warweg, ich kann dazu nichts sagen, weil ich diesen Bericht nicht kenne. Was uns aber in der Ukraine beunruhigt, ist der fortwährende russische Angriff auf die Ukraine; denn es ist ja so, dass Russland ungehindert aller Gespräche, die laufen, weiterhin die Ukraine jeden Tag mit Drohnen- und Bombenangriffen überzieht. Das ist, glaube ich, das wirklich Beunruhigende an diesem Konflikt. Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 21.05.2025 Mehr zum Thema: Wieso traf sich der Leiter des Bundeswehr-Planungsstabs mit rechtsradikalem Asow-Kommandeur Romanow? Bundesregierung zu ausgereisten deutschen Extremisten: „Der überwiegende Teil dieser Personen sympathisiert mit der ukrainischen Seite“ Faktencheck der Faktenchecker: Wie der ARD-„Faktencheck“ zum russischen Botschafter sich selbst ad absurdum führt Asow-Vertreter mit SS-Symbolik in Deutschland – Bundesregierung windet sich und verweigert Stellungnahme
08:57
Bio-Imperialismus made in USA
Die USA betreiben weltweit Biolabore unter dem Deckmantel von Gesundheit und Sicherheit. Diese Einrichtungen, oft militärisch geprägt und unter Pentagon-Kontrolle, entziehen sich lokaler Aufsicht. Kritiker werfen den USA vor, in Ländern wie der Ukraine, Georgien und diversen Staaten Afrikas biologische Tests durchzuführen. Besonders umstritten sind Verbindungen zu Firmen wie Metabiota und politische Figuren wie Hunter Biden. Trotz öffentlicher Kritik fehlt es an Transparenz und internationaler Kontrolle. Von Tunç Akkoç. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Bemühungen zur Eindämmung des Einsatzes chemischer und biologischer Waffen gehören zu den ältesten diplomatischen Initiativen in der Menschheitsgeschichte. Die früheste bekannte Vereinbarung in diesem Bereich ist das Straßburger Abkommen von 1675 zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich. Der Einsatz von Giften im Krieg reicht jedoch weit in frühere Zeiten zurück. Im modernen Zeitalter offenbarte der Einsatz von Chlor- und Senfgas im Ersten Weltkrieg das ganze Ausmaß dieser Bedrohung. Der tragische Verlust von etwa einer Million Menschenleben löste eine reflexartige Reaktion der internationalen Gemeinschaft aus und führte 1925 zur Unterzeichnung des Genfer Protokolls. Dieses Protokoll verbot den Einsatz chemischer und biologischer Waffen, versäumte es jedoch, verbindliche Beschränkungen für deren Herstellung oder Lagerung festzulegen. Die Vereinigten Staaten traten diesem Protokoll erst 1975 bei – gleichzeitig unterzeichneten sie auch das Übereinkommen über biologische Waffen, nachdem sie ihre Beteiligung bis dahin hinausgezögert hatten. Dieser späte Beitritt unterstreicht das besondere Interesse der USA im Bereich biologischer Waffen. Die Forschung zur biologischen Kriegsführung, die 1941 begann, entwickelte sich rasch zu einem zentralen Bestandteil der Staatspolitik. 1942 wurde Präsident Roosevelt ein geheimes Memorandum unter der Leitung des damaligen Kriegsministers Henry L. Stimson vorgelegt, das das aktive Programm der USA in diesem Bereich formalisierte. Hinter diesem geheimen Prozess stehen der Schatten des Pentagons und die institutionellen Reflexe dessen, was gemeinhin als „tiefer Staat“ bezeichnet wird. Kurz gesagt: Das biologisch-chemische Programm der USA wurde im Pentagon geboren und wird bis heute unter dessen Schirmherrschaft weltweit fortgeführt. Zur offiziellen Festlegung des geheimen Programms schickte Minister Stimson im April 1942 ein Memorandum an Präsident Roosevelt mit dem Inhalt: „Wir müssen vorbereitet sein … Und diese Vorbereitung muss mit großer Geheimhaltung und Sorgfalt erfolgen.“ Die neue US-Strategie in der Ära nach dem Kalten Krieg Das Ende des Kalten Krieges bot den Vereinigten Staaten eine bedeutende strategische Gelegenheit. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begannen die USA, unter dem Vorwand der Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen biologische Forschungseinrichtungen in ehemaligen Sowjetstaaten zu errichten. Diese Einrichtungen werden offiziell als dem „Zivilschutz“ und der „öffentlichen Gesundheit“ dienend beschrieben, doch ein erheblicher Teil ihrer Aktivitäten trägt militärischen Charakter. Das Koordinationszentrum dieser Programme ist die Defense Threat Reduction Agency (DTRA), eine dem Pentagon angegliederte Einrichtung. Im Rahmen ihres Programms zur Kooperativen Bedrohungsreduktion (CTR) hat die DTRA Labore in Ländern wie der Ukraine, Georgien, Armenien und Kasachstan errichtet, die alle unter direkter Aufsicht der USA betrieben werden. Laut der offiziellen Website der DTRA reichen die Ursprünge der Agentur auf das Manhattan-Projekt von 1942 bis 1947 zurück, das die erste Atombombe der Welt entwickelte: „Das reiche Erbe der DTRA beginnt mit dem Manhattan Engineer District, später einfach als Manhattan-Projekt bekannt, das während des Zweiten Weltkriegs zur Entwicklung der ersten Atombombe gegründet wurde.“ Die Agentur betont stolz, dass der Beginn des Atomzeitalters auf den Erfolg des TRINITY-Nukleartests zurückzuführen sei. Die DTRA, die nach eigenen Angaben mit der Mission arbeitet, die Welt vor nuklearen und biologischen Bedrohungen zu schützen, begründet ihre historische Legitimität mit ebendiesen Ursprüngen. Biologische Experimente in Georgien und der Ukraine Einer der schwerwiegendsten Vorwürfe betrifft biologische Experimente an Soldaten in der Ukraine und in Georgien. Laut Dokumenten der bulgarischen Journalistin Dilyana Gaytandzhieva sammelten vom Pentagon geleitete Projekte Blutproben von Tausenden Soldaten, die anschließend in die Vereinigten Staaten überführt wurden. Die Projekte verlangten, dass Todesmeldungen von freiwilligen Soldaten innerhalb von 24 bis 48 Stunden eingereicht werden, doch es wurden keine Daten öffentlich gemacht. Einrichtungen wie das Lugar-Labor in Georgien sowie Labore in ukrainischen Städten wie Lwow, Kiew, Charkow und Odessa – alle vom Pentagon finanziert – wurden von amerikanischem Personal mit diplomatischer Immunität betrieben. Dies hat den Zugang durch lokale Behörden stark eingeschränkt und ernste Fragen zur Art und Kontrolle der in diesen Einrichtungen durchgeführten Arbeiten aufgeworfen. Diese Biolabore existieren nicht nur in diesen oft genannten Ländern – auch in Deutschland gibt es sie. Derzeit errichtet die US-Armee im rheinland-pfälzischen Weilerbach ein Hochsicherheitslabor der Schutzstufe 3. Die NachDenkSeiten wollten von der Bundesregierung wissen, ob sie über das Projekt informiert wurde, ob eine Genehmigung der US-Seite vorlag und inwiefern deutsche Behörden überhaupt Kontrollrechte über solche Einrichtungen auf US-Militärgelände in Deutschland haben. Der Journalist Florian Warweg brachte das Thema in der Bundespressekonferenz zur Sprache – zufriedenstellende Antworten auf seine Fragen erhielt er jedoch nicht. Marburg-Ausbruch und die Debatte über den Ursprung von COVID-19 Im Jahr 2025 löste ein Ausbruch des Marburg-Virus in Ruanda erneut Besorgnis über mögliche Laborlecks aus. Die als mögliche Quelle genannte Einrichtung, das Family Health Research Center, wurde mit US-Finanzierung gegründet und direkt vom Pentagon unterstützt. Ehemalige Experten, die mit den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) verbunden sind, vermuteten, dass der Ausbruch auf ein Laborleck zurückzuführen sein könnte. Das Fehlen lokaler Aufsicht, die Zurückhaltung von Ergebnissen gegenüber der Öffentlichkeit und die Verlagerung von Proben ins Ausland zeigen die beunruhigende Realität eines möglichen „biologischen Testgeländes“. Dass ein Virus wie Marburg mit seiner hohen Sterblichkeitsrate eine unregulierte Bedrohung für die öffentliche Gesundheit darstellen kann, wirft nicht nur wissenschaftliche, sondern auch ethische und rechtliche Fragen nach Verantwortlichkeit auf. Die USA haben keinen transparenten Bericht über diesen Ausbruch veröffentlicht. Die ruandische Regierung wurde weitgehend von dem Prozess ausgeschlossen. Obwohl der Ausbruch schließlich unter Kontrolle gebracht wurde, wurde deutlich, dass ein Fehler in einem von den USA unterstützten Labor katastrophale Folgen in einem afrikanischen Land haben kann. Ist Trump anders? Während der Präsidentschaft von Donald Trump, insbesondere in seiner zweiten Amtszeit, rückten die US-amerikanischen Biolabor-Politiken verstärkt in den Fokus. Trump betonte die Gefahren von „Gain-of-Function“-Experimenten, bei denen Krankheitserreger gezielt leistungsfähiger gemacht werden, und ergriff Maßnahmen zur Kürzung der Finanzierung solcher Forschungen. Anfang 2025 erließ er eine Durchführungsverordnung, die die US-Finanzierung biologischer Experimente in „Ländern von Interesse“ verbot. Diese Entscheidung bezog sich jedoch nicht auf die Kontrolle oder Regulierung der bereits in früheren Jahren errichteten Labore, deren Betrieb somit weitgehend unkontrolliert blieb. Die Trump-Regierung investierte weiterhin in biologische Forschungseinrichtungen in der Ukraine, lieferte jedoch keine zufriedenstellenden öffentlichen Erklärungen zur Transparenz dieser Labore. Dadurch wurden Fragen zur Verantwortlichkeit in diesem Zeitraum zu einem intensiv diskutierten Thema. Trumps markige Rhetorik diente nicht dazu, das Management biologischer Risiken anzugehen, sondern sie zu verschleiern. Die frühzeitige Ablehnung der Möglichkeit eines Laborlecks durch seine Regierung, ihre Zurückhaltung bei der Untersuchung von Verbindungen zu Unternehmen wie Metabiota sowie die stillschweigende Zustimmung zu DTRA-Projekten zeigen deutlich, dass die Trump-Regierung ein Mitwirkender dieses globalen Systems war. Obwohl Trump in der Position gewesen wäre, Untersuchungen zu viralen Laborursprüngen voranzutreiben, entschied er sich – wie andere US-Präsidenten – dagegen. Die USA und Ebola: Intervention in Westafrika unter dem Deckmantel der „Hilfe“ Als 2014 der Ebola-Ausbruch in Westafrika begann, intervenierten die Vereinigten Staaten rasch in der Region. Doch war das Engagement der USA rein humanitär motiviert? Das Biotechnologieunternehmen Metabiota war während des Ausbruchs in Sierra Leone aktiv und arbeitete mit dem US-Militär zusammen. Dieses Unternehmen wurde von einer Investmentfirma finanziert, die mit Hunter Biden in Verbindung steht. Die Aktivitäten von Metabiota unterlagen nicht der Aufsicht durch lokale Behörden, was in der Bevölkerung Besorgnis hervorrief – es wurde die Frage laut: „Werden wir als Versuchspersonen benutzt?“ Der Umgang mit einem tödlichen Erreger wie dem Ebola-Virus durch militärische und medizinische Kanäle, verbunden mit der Überführung von Proben in US-Labore, kann nicht nur als Gesundheitsmaßnahme interpretiert werden, sondern auch als Versuch, eine biopolitische Hegemonie zu etablieren. Das globale Netz der US-Militärstützpunkte umfasst ein paralleles Netz von Biolaboren. Letztlich werden biologische Daten und die DNA der Menschheit unter die Kontrolle des US-Militärs gebracht. Wer kann garantieren, dass diese gewaltige DNA-Datenbank in einem zukünftigen Konflikt nicht vom US-Militär als Waffe eingesetzt wird? Und was rechtfertigt die privilegierte Position der USA beim Sammeln genetischer Informationen der gesamten Menschheit? Das Dreieck Pentagon, Black & Veatch und Hunter Biden Ein bedeutender Teil der Labore in der Ukraine wurde durch Verträge zwischen dem Pentagon und dem privaten Unternehmen Black & Veatch errichtet. Metabiota, ein Subunternehmer von Black & Veatch, wurde von einer Investmentfirma finanziert, die mit Hunter Biden, dem Sohn des ehemaligen US-Präsidenten Joe Biden, in Verbindung steht. Obwohl Metabiota angibt, im Bereich der öffentlichen Gesundheit tätig zu sein, werfen Projekte mit militärischem Personal in den Gastgeberländern Zweifel an der „zivilen“ Natur dieser Aktivitäten auf. Dieses Geflecht von Beziehungen verdeutlicht, dass biologische Forschung nicht nur durch wissenschaftliche Ziele, sondern auch durch politische und wirtschaftliche Interessen geprägt ist. Aus frei zugänglichen Quellen geht hervor, dass das Pentagon bei der Einrichtung und dem Betrieb von Biolaboren mit Black & Veatch zusammenarbeitet. In Georgien und der Ukraine vergibt Black & Veatch Unteraufträge an Metabiota, das eine Förderung in Höhe von 30 Millionen Dollar von Hunter Bidens Investmentfirma Rosemont Seneca Technology Partners (RSTP) erhielt. Die Defense Threat Reduction Agency (DTRA) des Pentagon unterzeichnete zwischen 2008 und 2017 einen Vertrag über 215,6 Millionen Dollar mit Black & Veatch, der die Errichtung und den Betrieb von Biolaboren in der Ukraine, Aserbaidschan, Vietnam, Kamerun, Thailand, Äthiopien und Armenien umfasste. Die USA betreiben zudem umfangreiche biomilitärische Aktivitäten in Fort Detrick im US-Bundesstaat Maryland. Im Sommer 2019 wurde das höchstklassifizierte Biosicherheitslabor des Landes in Fort Detrick wegen „Sicherheitsverstößen“ geschlossen, doch die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) gaben nach der Schließung keine öffentlichen Details bekannt. Darüber hinaus wurde 2001 in Nevada eine von der DTRA eingerichtete Anlage zur Simulation eines Milzbrandangriffs genutzt, „um die Bedrohung durch Bioterrorismus zu demonstrieren“. 2015 räumte das Pentagon ein, dass lebende Milzbrandsporen versehentlich an eine US-Militärbasis in Südkorea geschickt wurden. Einige Studien haben den Verdacht auf Lecks im Zusammenhang mit den USA im Kontext des COVID-19-Virus verstärkt. Spuren des Virus wurden bereits Ende 2019 in Italien, Frankreich und den USA entdeckt. So entdeckten die US National Institutes of Health (NIH) im Rahmen ihres „All of Us“-Projekts SARS-CoV-2-Antikörper in Blutproben, die im Dezember 2019 gesammelt wurden – ein Hinweis darauf, dass das Virus in den USA vorhanden war, bevor der erste offizielle Fall gemeldet wurde (Axios, 15. Juni 2021). Eine weitere CDC-Studie fand SARS-CoV-2-Antikörper in Blutspenden, die zwischen dem 13. und 16. Dezember 2019 entnommen wurden, was die These untermauert, dass das Virus bereits Ende 2019 in den USA zirkulierte (PMC7428442). Diese Erkenntnisse widersprechen deutlich der von Ex-Präsident Trump verbreiteten „China-Virus“-Erzählung und stellen seine Behauptungen wissenschaftlich in Frage. Wachsende Reaktionen aus Russland und China Russland betrachtet die biologischen Labore der USA in der Ukraine und in Georgien schon seit Langem mit Misstrauen. Diese Bedenken wurden nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges 2022 offen auf internationaler Bühne geäußert. Russland warf den USA militärisch-biologische Aktivitäten vor und brachte das Thema vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. China behauptete derweil, dass die USA 336 Labore in 30 Ländern errichtet hätten, und forderte von Washington Transparenz. Russland geht noch weiter und wirft den USA vor, in Afrika biologische Waffen zu entwickeln. Russische Beamte behaupten, dass Labore in der Demokratischen Republik Kongo, in Sierra Leone, Kamerun, Uganda und Südafrika – finanziert durch die DTRA, die National Security Agency und das US-Außenministerium – mit Vorbereitungen für einen biologischen Krieg in Verbindung stehen. Die USA wiesen diese Vorwürfe als „russische Propaganda“ zurück. Doch das offizielle Eingeständnis des Pentagon, Millionenbeträge in Labore in der Ukraine investiert zu haben, stellt ein bedeutendes Novum dar und verleiht den Vorwürfen eine gewisse Glaubwürdigkeit. US-Eingeständnis und der UN-Prozess Im Jahr 2022 machte die US-Staatssekretärin Victoria Nuland während einer Anhörung im Auswärtigen Ausschuss des Senats eine aufsehenerregende Aussage. Auf eine Frage des damaligen Senators aus Florida, Marco Rubio – heute Außenminister –, ob die Ukraine biologische oder chemische Waffen besitze, antwortete Nuland: „Die Ukraine verfügt über biologische Forschungseinrichtungen. Wir sind sehr besorgt, dass russische Streitkräfte versuchen könnten, die Kontrolle über diese zu erlangen.“ Diese Aussage stellte die erste offizielle Bestätigung der USA über die Existenz solcher Labore dar und bestätigte damit Informationen, die zuvor als „Verschwörungstheorien“ abgetan worden waren. Nach diesem Eingeständnis forderte Russland erneut eine Sitzung des UN-Sicherheitsrats. UN-Protokolle belegen, dass sich die USA seit 2001 gegen die Einrichtung eines Verifikationsmechanismus im Rahmen des Übereinkommens über biologische Waffen ausgesprochen haben. Fazit: Ein undurchsichtiges biologisches Risiko Die Biolabor-Politik der USA wirft tiefgreifende Fragen hinsichtlich Sicherheit, Ethik und Völkerrecht auf. Die meisten als „defensiv“ beschriebenen Labore entziehen sich jeglicher Kontrolle; Gesundheitsdaten der lokalen Bevölkerung werden durch Institutionen erhoben, die internationaler Überprüfung verschlossen bleiben. Ob diese Aktivitäten tatsächlich der öffentlichen Gesundheit dienen, bleibt eine ernsthafte Frage. Unter dem Vorwand der biologischen Sicherheit haben die USA ein grenzüberschreitendes Forschungsnetzwerk aufgebaut, das eng mit wirtschaftlichen und politischen Interessen verflochten ist. Das Fehlen transparenter Aufsicht über dieses Netzwerk stellt ein erhebliches Risiko für die globale Sicherheit dar. Sollten in Zukunft Pandemien oder biologische Bedrohungen aus diesen Laboren hervorgehen, würden nicht nur Wissenschaftler, sondern auch das internationale System, das zu deren Errichtung geschwiegen hat, zur Rechenschaft gezogen werden. Trotz seiner „America First“-Rhetorik, die eine Abkehr von ausländischen Interventionen suggerierte, erwies sich die Politik der Trump-Regierung im Hinblick auf Biolabore als Illusion. Tatsächlich wurde die Finanzierung biologischer Projekte im Ausland durch das Pentagon während Trumps Amtszeit nie eingestellt. Millionen von Dollar flossen weiterhin an Labore in der Ukraine, Georgien und Afrika. Die Art der dort durchgeführten Forschungen, einschließlich der getesteten Krankheitserreger, bleibt der Öffentlichkeit konsequent verborgen. Titelbild: Shutterstock / alexkich Mehr zum Thema: US-Militär baut Bio-Labor der Sicherheitsstufe 3 in Deutschland – Bundesregierung weiß angeblich von nichts Wie die Welt in einen neuen Kalten Krieg taumelt Wie viele ausländische Militärs sind in Deutschland stationiert und was kostet dies den Steuerzahler? – Bundesregierung legt Zahlen vor Dem Zyklon in die Augen schauen: Die militärische Bedeutung der US-Air-Base Ramstein in der US-Kriegsführung gegen den Iran
21:26
Die Bedingungen für einen dauerhaften und gerechten Frieden
In der Debatte um kommende Friedensverhandlungen im Ukrainekrieg wird die russische Position meist verkürzt dargestellt oder gleich ganz als „Verweigerung“ diskreditiert. Selbst wenn doch einmal russische Quellen zitiert werden, heißt es nur, man strebe in Moskau eine Friedensordnung an, die „die Ursachen des Ukraine-Konflikts“ dauerhaft beseitigt. Was damit konkret gemeint ist, wird jedoch nicht ausgeführt. Der in Moskau lebende deutsche Journalist Gert-Ewen Ungar ist diesen Fragen für die NachDenkSeiten nachgegangen und skizziert für unsere Leser die russische Position. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Russische Politik verweist regelmäßig darauf, dass mit einem Friedensschluss die Ursachen für den Ukraine-Konflikt dauerhaft ausgeräumt werden müssen. Was eigentlich eine Binsenweisheit ist, weigert man sich, in Westeuropa zu verstehen. Dabei sind die Kriegsgründe von Russland immer wieder klar benannt worden. Es ist der Wille zur Aufnahme der Ukraine in die NATO und der ethnische Konflikt im Innern. Ist beides gelöst, ist der Krieg vorbei und die Grundlage für dauerhaften Frieden geschaffen. Am Montag telefonierten US-Präsident Trump und Russlands Präsident Putin miteinander. Zuvor hatten sich bereits russische und ukrainische Unterhändler in Istanbul zu direkten Gesprächen getroffen. Eine Verhandlungslösung ist wieder in den Bereich des Möglichen gerückt. Es ist bereits das zweite Mal, dass sich russische und ukrainische Diplomaten getroffen haben, seit Russland am 24. Februar 2022 in den Krieg eingetreten ist, der im Jahr 2014 unmittelbar nach dem Maidan-Putsch als Bürgerkrieg begann und seitdem eskaliert. Russland drängt darauf, dass für eine dauerhafte Friedenslösung die Ursachen für den Krieg ausgeräumt werden müssen. In Deutschland bleibt unklar, was damit gemeint ist, denn es wird nur unvollständig berichtet. Dabei hat Wladimir Putin wiederholt deutlich gemacht, dass die russische Seite an einem Einfrieren des Konflikts kein Interesse hat. Russland strebt einen „gerechten, dauerhaften Frieden“ an. Dauerhaften Frieden gibt es dann, wenn die Auslöser des Konflikts dauerhaft verschwunden sind – eigentlich ganz logisch und unmittelbar zu verstehen. Für Russland sind diese Gründe klar, deutsche Politik stellt sich dagegen dumm. Einer dieser Konfliktgründe geht auf das Jahr 2008 zurück. Auf dem damals stattfindenden NATO-Gipfel in Bukarest wurde der Ukraine eine Beitrittsperspektive eröffnet. Russland hat damals deutlich gemacht, dass nach all den Osterweiterungsrunden der NATO die Aufnahme der Ukraine in das Militärbündnis für Russland eine rote Linie darstellt. Das hat auch historische Gründe. Napoleon und die deutsche Wehrmacht marschierten durch die ukrainische Ebene in Richtung Russland, denn es gibt dort kaum natürliche Hindernisse. Sowohl der Ukraine als auch der NATO und den Ländern des Westens waren die russischen Sorgen allerdings gleichgültig. Die Ukraine nahm im Jahr 2019 den NATO-Beitritt sogar als Staatsziel in ihre Verfassung auf. Für einen dauerhaften und gerechten Frieden muss diese Konfliktursache verschwinden, ist die Logik der russischen Argumentation. Geben die Ukraine und der Westen das Ziel auf, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, ist der Konflikt gelöst. Es könnte also ganz einfach sein, wenn man denn wollte, allerdings will man nicht. Man will vor allem in Westeuropa nicht, macht der bisherige Verlauf deutlich. Bereits im Frühjahr 2022 lag nach mehrwöchigen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland ein konkretes Verhandlungsergebnis vor. Die Verhandlungen begannen bereits wenige Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine am 28. Februar 2022. Sie fanden zunächst in der weißrussischen Grenzregion Gomel statt und wurden dann in der Türkei fortgesetzt. Auf das substanzielle Ergebnis der damaligen Verhandlungen wird in Russland regelmäßig verwiesen. Die Ukraine erklärte sich bereit, auf einen NATO-Beitritt zu verzichten, stimmte Obergrenzen für ihr Militär zu, verzichtete auf atomare Bewaffnung, bekommt dafür Sicherheitsgarantien einer breit aufgestellten Staatenallianz, zu der auch Russland und China gehören. Der Krieg könnte schon längst wieder zu Ende sein, wenn man gewollt hätte. Aber man wollte nicht, denn man hält an seinem Grund fest. Angeblich auf Bitten des deutschen Kanzlers Olaf Scholz hat sich Russland als Zeichen des guten Willens im Frühjahr 2022 aus der Region um Kiew zurückgezogen. Kurze Zeit später machten die Bilder von Butscha die Runde. Damit war der mögliche Friedensschluss vom Tisch. In Russland hält man Butscha schon aus diesem Grund für eine Inszenierung, die das Ziel hatte, die Einigung zu hintertreiben. Großbritanniens Premier Boris Johnson soll bei seinem Besuch in Kiew Wolodymyr Selenskyj dazu gedrängt haben, den Krieg weiterzuführen. Der Westen sei noch nicht zum Frieden bereit. Dafür versicherte Johnson der Ukraine die volle westliche Unterstützung. Seitdem hat sich die Situation der Ukraine allerdings drastisch verschlechtert. Der Plan Russlands ging nicht auf. Dieser bestand meiner Meinung nach darin, durch den Einmarsch einen Schock auszulösen, sodass die Ukraine Verhandlungen zustimmt, denen sie sich zuvor verweigert hatte. An eine Einnahme der Ukraine war nicht gedacht. Die Truppenstärke von rund 100.000 Mann zu Beginn der militärischen Spezialoperation war viel zu niedrig ausgelegt, um die Ukraine komplett zu besetzen. Es handelte sich um eine Demonstration der Stärke. Der eigentliche Krieg begann erst, nachdem sich die Ukraine auf Anraten des Westens aus der ausverhandelten Vereinbarung wieder zurückgezogen hatte. Dann wurden die russischen Truppen aufgestockt, Russland stellte auf Kriegswirtschaft um und machte sich für einen dauerhaften Krieg bereit. Auch jetzt ist die Bedingung, an der Russland für einen möglichen Friedensschluss festhält, dass die Ukraine auf einen NATO-Beitritt dauerhaft verzichtet. Der Auslöser des Konflikts muss verschwinden, dann löst er sich von selbst. Einer, der diesen Zusammenhang verstanden hat, ist Donald Trump. Er treibt eine Verhandlungslösung voran, die russische Sicherheitsinteressen berücksichtigt. Trump hat unter anderem einem NATO-Beitritt der Ukraine eine Absage erteilt. Allerdings halten die westeuropäischen Staaten weiterhin daran fest, die Ukraine ins Bündnis aufzunehmen. Auch sie reden zwar von einem „gerechten Frieden”, meinen damit aber das Gegenteil von dem, was Russland im Sinn hat. Der Vorschlag, in die Ukraine „Friedenstruppen” entsenden zu wollen und die USA dabei einzubinden, wie er von den willigen Koalitionären Starmer, Merz und Macron ins Spiel gebracht wurde, ist nichts anderes als eine NATO-Präsenz in der Ukraine, die nur nicht so genannt wird. Die Europäer wollen weiterhin keinen Frieden, wenn das bedeutet, dass Interessen Russlands berücksichtigt werden. Das wirft auch ein Licht auf die Frage, wer in diesem Konflikt eine imperialistische Agenda vertritt. Russland ist es nicht, Westeuropa will dagegen die Unterwerfung Russlands erzwingen. Ausgeräumt werden muss auch der ethnische Konflikt in der Ukraine. Im Vorfeld des Maidan wurde durch westliche Einflussnahme ein ukrainischer Nationalismus aktiv gefördert. In der Folge entstanden tiefe gesellschaftliche Verwerfungen zwischen der Westukraine und den Menschen im Osten, die sich mehrheitlich als Teil der russischen Welt sehen. Dieser vom Westen schon im Vorfeld des Maidan befeuerte Nationalismus und vorsätzlich geschürte Hass führte zum Bürgerkrieg. Vertreter der ukrainischen Regierung bekannten sich wiederholt öffentlich zum Ziel der „Vernichtung alles Russischen”. Die zielgerichteten Angriffe auf Zivilisten im Donbass und das extrem grausame Vorgehen der Ukraine in Kursk verdeutlichen, dass es sich bei der geäußerten Genozidabsicht nicht nur um Rhetorik, sondern um gelebte Praxis handelt. Die deutschen Medienkonsumenten werden von diesen brüsken Tatsachen allerdings gut abgeschirmt. Die massenweisen Hinrichtungen von Zivilisten in Kursk beispielsweise finden in den Medien des deutschen Mainstreams faktisch keine Erwähnung. Der Versuch, den innerukrainischen ethnischen Konflikt zu befrieden, wurde vom Westen, allen voran von Deutschland sabotiert. Der Versuch hieß Minsk 2. Minsk 2 war ein völkerrechtlich bindendes Abkommen, das in 13 Schritten den Weg zum Frieden und zum Erhalt der territorialen Integrität unter Ausklammerung der Krim sicherstellen sollte. Eine Verfassungsreform sollte dem Donbass Autonomie garantieren. Minsk 2 war der Versuch, eine zentrale Konfliktursache zu befrieden. Angela Merkel hat in einem Interview in der Wochenzeitung Die Zeit später zugegeben, dass es ihr sowie den Verhandlungspartnern aus der Ukraine und Frankreich nie um die Herstellung von Frieden, sondern um die Aufrüstung der Ukraine gegangen sei. Sie verfolgte das Ziel, der Ukraine Zeit zu verschaffen, sagte Merkel im Dezember 2022. Die Aufteilung der Ukraine ist daher die notwendige Konsequenz, die den zweiten Grund für den Krieg beseitigt: die ethnischen Spannungen. Auch das hat man in den USA deutlich besser verstanden als in der EU und in Deutschland. Dort skandalisiert man die Forderungen nach einem Gebietsabtritt als unzumutbar. Obwohl die Menschen im Donbass in gleich mehreren Referenden ihren Willen bekundet haben, sich von der Ukraine lösen zu wollen, besteht man in Westeuropa darauf, diese Willensbekundungen zu ignorieren. „Gerechter Frieden” ist nach westlicher Lesart ein Frieden gegen den Willen dieser Menschen. Die westeuropäischen Ideen, die einen „dauerhaften Frieden” sichern sollen, sind daher schon aus rein logischen Gründen zum Scheitern verurteilt. Eine Ordnung, die den Willen der Menschen im Donbass dauerhaft ignoriert, wird sich nicht dauerhaft installieren lassen können. Man muss es klar sagen: Deutsche Vorstellungen von einem dauerhaften Frieden in der Ukraine führen notwendig zu einer Herrschaft der Gewalt. Aber auch in diesem Zusammenhang hat sich die Situation der Ukraine inzwischen deutlich verschlechtert. War in der Vereinbarung vom Frühjahr 2022 noch die Rede davon, dass die Entscheidung über den Donbass später getroffen werden soll, sieht es jetzt danach aus, dass dessen Status für Russland nicht mehr zur Debatte steht. Der Donbass ist russisch. Einer der russischen Unterhändler sagte nach dem Treffen in Istanbul, sollte sich die Ukraine nicht mit dem Verlust von vier Regionen abfinden und die Verhandlungen deshalb platzen lassen, wird es in der nächsten Runde nicht mehr um vier, sondern um acht Regionen gehen, die von der Ukraine abzutreten sind. Die Ukraine wird dann unter anderem auch Odessa und den Zugang zum Schwarzen Meer verlieren. Klar ist: Wer einen Konflikt lösen will, muss seine Ursachen beseitigen. Russland hat die Ursachen des Ukraine-Konflikts klar benannt. Die USA haben diesen Zusammenhang inzwischen verstanden. Nur in Westeuropa verweigert man sich noch der Einsicht und fabuliert sich eine Geschichte zusammen, der jede Rationalität fehlt. Russland hat weder die Absicht, die gesamte Ukraine einzunehmen, noch will es Länder der EU überfallen. Gerade die ersten Tage des Kriegs im Februar 2022 zeigen klar, dass der Ukraine-Krieg aus russischer Sicht als Politik mit anderen Mitteln gedacht war. Es geht Russland seit 2008 und dann verstärkt ab 2014 darum, die Konfliktursachen zu eliminieren. An denen aber will Westeuropa unter allen Umständen festhalten. Einem Friedensabkommen, das die Kriegsursachen nicht beseitigt, wird Russland aber nicht zustimmen. Das ist eine gute Nachricht, denn das heißt, dass aus russischer Sicht ein echter, gerechter und dauerhafter Frieden möglich ist. Den Weg dorthin ist Russland bereit zu gehen. Jetzt muss das richtige Verständnis von Gerechtigkeit nur noch in Berlin, Brüssel, London und Paris ankommen. Titelbild: vchal/shutterstock.com
12:18
Die Grünen rufen (schon wieder) „Haltet den Dieb!“ – Jetzt soll die Gas-Geschichte umgeschrieben werde
Das nennt man dreist: Grüne fordern einen Untersuchungsausschuss zu Angela Merkels „riskanter“ Gas-Politik. Ausgerechnet die Partei, die eine maßgebliche Verantwortung für die Energiekrise trägt, probt jetzt als Ablenkung die Vorwärtsverteidigung. Ein Kommentar von Tobias Riegel. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Grüne Politiker fordern einen Untersuchungsausschuss, der die Gaspolitik von Angela Merkel untersuchen soll, wie Medien berichten: Die „Risiken“ einer deutschen Abhängigkeit von russischem Gas seien vor dem Ukraine-Krieg bekannt gewesen, doch das Kanzleramt unter Merkel habe diese ignoriert. Der Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak sagte der SZ: „Ohne ernsthafte parlamentarische Aufklärung werden die bis heute offenen Fragen nicht zu klären sein.“ Und Michael Kellner (Grüne) behauptet gar: „Angela Merkel wusste über die Risiken Bescheid und ist sie geflissentlich übergangen. Damit ist sie ihrem Amtseid, Schaden vom Land abzuwenden, nicht gerecht geworden.“ Diese Äußerungen sind aus Richtung der Partei, die in den letzten Jahren gerade auf den Gebieten der Außen- und Energiepolitik zu den zerstörerischsten Kräften gehörte, schon ein starkes Stück und ein klarer Fall von versuchter Ablenkung: Die Grünen rufen „Haltet den Dieb!“ und proben die Vorwärtsverteidigung. Aktueller Aufhänger für die grünen Vorstöße ist ein Bericht der Süddeutschen Zeitung, wonach das Kanzleramt Warnungen vor einer großen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas und den beteiligten Unternehmen zwar zur Kenntnis genommen, daraus aber keine Konsequenzen gezogen habe. Traurig: LINKE mit im Boot Wie zu erwarten – darum ist es nicht weniger traurig -, macht dabei auch die LINKE mit und nutzt eine ähnlich fragwürdige Rhetorik. Jan van Aken, Parteivorsitzender der LINKEN, sagte dem Spiegel: „Die Abhängigkeit von russischem Gas, die uns die letzte schwarz-rote Bundesregierung eingebrockt hat, muss dringend parlamentarisch aufgeklärt werden. Wie auch die Milliardeninvestitionen der Ampelregierung für LNG-Terminals.“ Wenn Frieden und Wohlstand zum „Risiko“ erklärt werden So so: die „Abhängigkeit“, die Merkel und ihre Vorgänger uns „eingebrockt“ haben. Diese „riskante Abhängigkeit“ hat immerhin für eine stabile und billige Energieversorgung gesorgt, was die Basis für zahlreiche soziale und industrielle Projekte im Land war/ist, zusätzlich zur durch den Handel reduzierten Kriegsgefahr. Wer das leichtfertig und aus ideologischen Gründen nicht nur akut zerstört, sondern auch für die Zukunft ausschließen will, führt nichts Gutes im Schilde. Dazu kommt, dass alle mit dem antirussischen Wirtschaftskrieg verbundenen Ziele (voraussehbar) verfehlt wurden, die negative Wirkung hierzulande aber immens ist. Satirisch haben wir diese Haltung im Artikel „Frieden und Wohlstand waren schreckliche Irrtümer“ thematisiert. Wie es nach dem russischen Einmarsch 2022 zum Erliegen der Gaslieferungen kam, unterliegt einem Kampf um die Deutungshoheit. Peter Vonnahme hat dazu auf den NachDenkSeiten geschrieben: „Wichtig ist die zeitliche Abfolge. Zuerst hat sich Deutschland mit schweren Waffen und Einweisung ukrainischer Militärs auf die Seite der Kriegspartei Ukraine geschlagen; das kann faktisch als Kriegsbeteiligung gewertet werden (so der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags). Als Antwort hierauf entsann sich der Kreml seines Arsenals von Gegenmaßnahmen, angefangen bei kurzfristigen Liefereinschränkungen infolge von Reparaturarbeiten über Wartungsprogramme bis hin zu echten Lieferstopps. Rückblickend ist unübersehbar, dass die deutschen Sanktionen und Militärhilfen die entscheidenden Ursachen für unsere heutigen Probleme sind.“ Wichtig ist auch diese Aussage: „Von einer verantwortlichen Politik wäre zu erwarten gewesen, dass sie nicht Sanktionen beschließt, bevor sie sich mit der massiven Verwundbarkeit des eigenen Landes vertraut gemacht hat.“ Habeck und die lächerliche Pose des „Retters“ Dass die Grünen diese Verwundbarkeit „des eigenen Landes“ ignoriert und kleingeredet haben, ist jetzt offensichtlich: Grüne Politik und ihre jahrelange antirussische Stimmungsmache sowie der auch daraus resultierende Wirtschaftskrieg (der in diesen Tagen noch einmal mit neuen Sanktionen eskaliert werden soll) haben entscheidend mit zu der aktuellen Energie-Situation beigetragen. Das macht Robert Habecks heroische Pose des „Retters“ noch lächerlicher: Das Problem, dem er sich heldenhaft entgegengestellt hat, wurde maßgeblich von der eigenen Partei mit angerichtet. Dass die Grünen das jetzt vernebeln wollen, ist nachvollziehbar, Tichys Einblick schreibt aktuell dazu: „Habeck geht sogar so weit zu behaupten: ‚Die Ursache der Krise war: Es kam kein Gas aus Russland mehr.‘ Reicht Robert Habecks Gedächtnis nicht einmal in das Jahr 2022 zurück, als im April Annalena Baerbock in Riga tönte, dass Deutschland keine russischen Energieimporte mehr haben wollte: ‚Wir werden bis zum Sommer das Öl halbieren und bis Ende des Jahres bei null sein. Und dann wird Gas folgen, in einem gemeinsamen europäischen Fahrplan – denn unser gemeinsamer Ausstieg, der vollständige Ausstieg mit der Europäischen Union, ist unsere gemeinsame Stärke.’“ Ein Fazit des Mediums: „Nicht Putin hat die Energielieferungen eingestellt, sondern die deutsche Außenministerin hat den Weg in die Energiekrise freigeräumt.“ Zu betonen ist aber auch, dass die Grünen bei diesem Thema nicht die einzige destruktive politische Kraft in Deutschland sind – sie geraten aber besonders in den Fokus, weil sie ihre Ideologie beim Thema Russland und Energie stilistisch und inhaltlich besonders radikal vorantreiben. „Nord Stream 2 geht direkt nach Deutschland. (…) Man muss nur den Knopf drücken.“ Die Verknüpfung der Floskel „unprovozierter russischer Angriffskrieg“ mit den Floskeln von der „riskanten“ Abhängigkeit von russischem Gas führt noch aus einem weiteren Grund in die Irre: Lange Zeit hatten zunächst die Sowjetunion und dann Russland allen geopolitischen Krisen zum Trotz zuverlässig Energie geliefert. Sogar dann noch, als von westlicher Seite ein Wirtschaftskrieg entzündet wurde, der von einer aggressiven Rhetorik begleitet wurde und wird. Und sogar nach der Lieferung deutscher Waffen an die Ukraine und dem Terroranschlag auf deutsch-russische Infrastruktur (Nord-Stream) hatte die russische Seite noch mehrfach gesagt, dass es an der deutschen Seite liege, ob und wann die Energie-Lieferungen wieder aufgenommen werden. Der russische Präsident hatte etwa 2023 bei der „Russischen Energiewoche“ festgestellt: „Aber Nord Stream 2 geht direkt nach Deutschland. Ein Strang ist unbeschädigt, das wären 27,5 Milliarden Kubikmeter pro Jahr, man muss nur den Knopf drücken. Dafür ist aber ein Beschluss der deutschen Bundesregierung erforderlich. Die wollen lieber alles 30 Prozent teurer kaufen und nicht unsere Energieträger nutzen. Das ist ihre Entscheidung.“ Das echte Risiko für die Energieversorgung und als Folge die Verteuerung und die Kriegsgefahr gingen und gehen von den Personen aus, die – mutmaßlich im Interesse US-amerikanischer Machtgruppen – eine Verständigung von Deutschland und Russland langfristig verhindern wollen und dafür auch die inländischen Folgen ihrer Schocktherapien billigend in Kauf genommen haben. Diese Risiken sind militärischer, wirtschaftlicher und in der Folge auch sozialer Natur. Der offizielle Umgang mit dem Terroranschlag auf Nord Stream 2 und aktuell mit dem Eigentümerstatus der Pipeline ist ein Skandal für sich. Deutsch-russische Annäherung langfristig verhindern Wenn die Waffen im Ukrainekrieg erst einmal schweigen, ist eine Rückkehr zu einem vernünftigen Energiehandel zwischen Deutschland und Russland trotzdem nicht gänzlich ausgeschlossen, wie ein jüngster Vorstoß von CDU-Politikern zeigte. Bemühungen in diese Richtung werden selbstverständlich auf das härteste diffamiert, zuletzt traf es Ralf Stegner (SPD) oder Michael Kretschmer (CDU). Zum Versuch, eine Annäherung der beiden großen europäischen Länder auch langfristig zu verhindern, gehört nun auch der Trick mit dem U-Ausschuss zu Merkel, der in zwei Richtungen wirkt: Zum einen wird durch die begleitende grüne und „linke“ Rhetorik jegliche Zusammenarbeit der Länder auch für die Zukunft prinzipiell als „Risiko“ oder gar als potenzieller „Verrat“ definiert. Zum anderen soll rückwirkend die Energiepolitik von Angela Merkel (und Vorgängern) sozusagen „offiziell“ als Fehler eingestuft werden – eine Politik, die erheblich seriöser und verantwortungsbewusster war als die der Grünen. Der grüne Kampf gegen Nord Stream 2 Den grünen Kampf gegen normale Beziehungen mit Russland und gegen die inzwischen zerstörte Nord-Stream-2-Pipeline gab es ja schon vor dem russischen Einmarsch von 2022. So verteidigten Grüne 2021 sogar indirekt US-Sanktionsdrohungen gegen Deutsche, wie im Artikel „Nord Stream 2: ‘Putins Pipeline’ und die Verteidiger der US-Sanktionen” beschrieben wird. Damals gab es noch Vernunft in der SPD und der Fraktionsvize Sören Bartol sagte geradezu prophetisch: „Indem sie (Baerbock) Nord Stream 2 ablehnt, macht sie den Import von schmutzigen Fracking-Gas hoffähig. (…) Das ist dann die verschwiegene Konsequenz des grünen Populismus.“ Einen Einblick in die zielgerichteten und langfristigen Handlungen gegen die deutsch-russische Energieversorgung gibt auch die folgende Vision, die Robert Habeck 2016 bezüglich Russland entworfen hatte und in der er schon damals Widerstand gegen Nord Stream 2 und Wirtschaftsbeziehungen zu Russland ankündigt. Unter diesem Link findet sich das folgende Video bei Youtube : Nun, da der Theaterdonner der grünen Meinungsmache langsam verklingt, müssten viele Bürger eigentlich wahrnehmen, dass die neue „grüne“ Energieversorgung bizarr ist: Sie ist teuer, sie ist klimaschädlich – und sie ist angesichts der neuen Partner, denen man sich ausliefert, viel riskanter und moralisch in keiner Weise ein Fortschritt. Und, bezüglich LNG-Gas, liebe Grüne: „Wer hat uns eigentlich in die Gas-Abhängigkeit von Donald Trump geführt?“ Wer hat es versäumt, „Schaden vom Land abzuwenden“? Wenn sie aus dem grünen Lager kommt, dann ist auch die Aussage, Merkel habe ihren Amtseid missachtet, „Schaden vom Land abzuwenden“, einfach nur dreist. Die NachDenkSeiten haben Merkels Politik auf vielen Gebieten (und auch bezüglich ihrer Ukraine-Politik) oft und scharf kritisiert – diese kritikwürdige Politik soll hier nicht in der Rückschau verniedlicht oder weißgewaschen werden. Aber: Im direkten Vergleich mit Annalena Baerbock ist Merkel eine Diplomatin von Format und im Vergleich mit Robert Habeck ist sie eine verantwortungsvolle Politikerin. Die Grünen sollten aufen, dass sich der indirekte Vorwurf des „Landesverrats“ nicht gegen sie selber wendet, wenn sie diesen zur Ablenkung eigens in die Debatte einführen. Denn das ist ja genau das, was zahlreiche Bürger Robert Habeck und Annalena Baerbock und anderen Grünen angesichts des hinterlassenen Scherbenhaufens vorwerfen: Dass sie ihre Pflicht, Schaden vom Land abzuwenden, mit Füßen getreten haben, dass sie verbunden mit einer selbstverliebten und hysterischen Pose unvorsichtig und verantwortungslos gehandelt haben – mit Duldung anderer Parteien und mit massiven Folgen für viele Bürger. Wer hat hier also viel eindeutiger seinen Amtseid verletzt? Wessen Energie-, Wirtschafts- und Außenpolitik müsste also viel eher von einem Untersuchungs-Ausschuss durchleuchtet werden? Titelbild: Alexandros Michailidis / shutterstock.com Mehr zum Thema: EU-Verbot russischer Gasimporte – Selbstmord auf Raten Klimapolitik paradox: LNG-Gas aus den USA ist bis zu dreimal so klimaschädlich wie Kohle Sanktionen: Wie die „Grünen-Connection“ gegen die Vernunft hetzt Ralf Stegner auf geheimer Russland-Mission: Vorsicht vor der neuen „Moskau-Connection“! Frieden und Wohlstand waren schreckliche Irrtümer Wer hat uns eigentlich in die Gas-Abhängigkeit von Donald Trump geführt?
14:35
„Sprachrohr von Eliten“
Vom Redakteur der Süddeutschen Zeitung zum Regierungssprecher der neuen Bundesregierung: Stefan Kornelius hat sich eingefügt in eine lange Reihe von Medienakteuren, die aus dem Journalismus in die Presseabteilungen der Politik gewechselt sind. Wie sind solche Wechsel zu verstehen? Der Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen spricht von einer „Drehtür“ zwischen Journalismus und Politik und sagt: „Diese Wechsel sind ein Punkt, an dem für jeden sichtbar wird, wie eng Medien und Politik verbandelt sind. Das gilt übrigens auch für andere Bereiche.“ Das Interview führte Marcus Klöckner. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Marcus Klöckner: Herr Meyen, die neue Bundesregierung hat auch einen neuen Pressesprecher. Es ist Stefan Kornelius. Viele Jahre war Kornelius als leitender Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. Zuerst die Herrschenden kritisieren, dann ihr Sprecher sein. Sehen Sie da ein Problem? Michael Meyen: Ja. Solche Drehtüren senden ein doppeltes Signal, nach innen und nach außen. Das Publikum denkt: Die stecken ohnehin alle unter einer Decke. Diesen Verdacht gibt es ja schon länger. Man muss sich dafür nur die Vorgänger von Kornelius anschauen. Die drei Ampelsprecher waren allesamt prominente Journalisten. Steffen Hebestreit war bei Dumont, Christiane Hoffmann beim Spiegel und Wolfgang Büchner Chefredakteur bei den wichtigsten Nachrichtenmedien im Land. Spiegel, dpa, Redaktionsnetzwerk Deutschland. Wenn wir noch zwei Schritte zurückgehen: Steffen Seibert, Merkels letzter Sprecher, war Fernsehansager und durfte aus dem Stand das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung leiten, eine Behörde mit über 500 Planstellen und einem dreistelligen Millionenetat. Ulrich Wilhelm, Seiberts Vorgänger, ist als Intendant zum Bayerischen Rundfunk gewechselt, und Seibert wurde Botschafter in Israel. Kein Wunder, wenn nicht wenige sagen: Das ist alles eine Sauce. Das ist das Signal nach außen. Das Signal nach innen ist genauso fatal. Jeder Redakteur sieht die Drehtür und weiß damit: Es gibt auch für unsereins Jobs mit Beamtenstatus, geregelten Arbeitszeiten und Pensionsanspruch. Also halte ich mich lieber zurück mit Kritik und mit Informationen, die Ministerien und Behörden in Schwierigkeiten bringen könnten. Vielleicht schaffe ich so ja eines Tages den Sprung auf die andere Seite. Lassen Sie uns darüber anhand der Personalie Kornelius sprechen. Seit Langem steht der Vorwurf im Raum, dass viele Journalisten ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachkommen. Der Vorwurf lautet: Zu viele Journalisten sind mit „denen da oben“, vor allem mit Politikern, weltanschaulich verbunden. Das führe dazu, so der Vorwurf, dass dort, wo Journalisten Politiker scharf kritisieren sollten, sie allenfalls mit Watte werfen. Nun haben wir also einen Journalisten wie Kornelius, der zu den, sagen wir: Spitzenjournalisten des Landes gehörte und bei einem der angesehensten Medien der Republik gearbeitet hat. Wie ordnen Sie die journalistische Arbeit von Kornelius ein? War er ein Journalist, der den Ansprüchen eines herrschaftskritischen Journalismus gerecht geworden ist? Dazu gibt es ja zum Glück Forschung. Uwe Krüger hat sich für seine Dissertation fünf dieser Spitzenjournalisten genauer angeschaut. Kornelius war dabei. Es ging um den Themenbereich Außen- und Sicherheitspolitik, um Netzwerke und um die Frage, was das aus dem macht, was uns als objektive Berichterstattung verkauft wird. Krüger zeigt, dass Kornelius in den Nullerjahren Sprachrohr von Eliten war, die für Rüstung, eine starke US-Bindung, mehr NATO-Engagement und weniger Beschränkungen für die Bundeswehr waren. Die ZDF-Sendung „Die Anstalt“ hat daraus 2014 eine Tafelnummer gemacht, die viral gegangen ist. Die Sendung und die Kritik an Kornelius liegen einige Jahre zurück. Könnten Sie noch mal kurz skizzieren, worum es genau ging? Um den Einfluss transatlantischer Netzwerke auf die wichtigsten Leitmedienredaktionen. Auf der Tafel sieht man die fünf Köpfe und etliche Linien zu Think Tanks und Lobbyorganisationen. Stefan Kornelius war von 1996 bis 1999 für die Süddeutsche Zeitung in Washington. Dieser Ort gehört offenbar zur Regierungssprecherkarriere wie der Senf zur Bratwurst. Wilhelm, Seibert und Hebestreit waren dort auch jeweils irgendwann. Kornelius wurde 2000 Außenpolitikchef in München. In Krügers Untersuchungszeitraum 2002 bis 2009 hat er an der Münchner Sicherheitskonferenz teilgenommen, war im Beirat der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, im Präsidium der Deutschen Atlantischen Gesellschaft und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Heute ist er unter anderem in der Atlantik-Brücke. Wie hat Kornelius auf die Kritik von Krüger und in der „Anstalt“ reagiert? Mit Unverständnis. Solche Mitgliedschaften würden zu seinem Job gehören. Und was Krüger gemacht habe, sei keine Wissenschaft, sondern politischer Aktivismus. Dass man nicht permanent mit Leuten zu tun haben kann, über die man berichten soll, und dass es mindestens ein Geschmäckle hat, wenn ich in der Öffentlichkeit für Konzepte und Sprachformeln werbe, die vorher hinter verschlossenen Türen in meinem Beisein und vielleicht sogar unter meiner Mitwirkung entwickelt worden sind, sieht er offenbar nicht. Mit dem Wissen von heute kann man sagen: Stefan Kornelius hat sich damals als Sprecher bewährt und ist nun ganz offiziell mit diesem Titel belohnt worden. Kornelius verantwortete erst das außenpolitische Ressort der Süddeutschen Zeitung und ab 2021 dann das gesamte Politikressort. Sie kennen sicherlich die Bilderberg-Konferenzen. Soweit ich das weiß, hat die Süddeutsche Zeitung nie über diese Zusammenkunft der Machteliten berichtet – schon gar nicht wahrlich kritisch. Angenommen werden darf Folgendes: Ein Journalist, der so gut transatlantisch vernetzt ist wie Kornelius und der sich dazu auch noch mit der großen Politik beruflich beschäftigt, dürfte von der Existenz des semi-geheimen Elitezirkels gewusst haben. Halten wir uns vor Augen: Bei Bilderberg kommen etwa 140 der führenden Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Bildung, Militär, Geheimdiensten, Forschung, Bildung und Adel zusammen. Dieser Personenkreis mietet sich für drei bis vier Tage ein komplettes Hotel, schottet sich nach außen hin ab und auf der Agenda stehen große, weltpolitische Themen. Sie sind nicht nur Kommunikationswissenschaftler und Journalismusforscher, sondern haben selbst eine Ausbildung zum Journalisten durchlaufen. Bitte ordnen Sie das Thema Bilderberg für uns aus journalistischer Sicht ein! Ist es nachzuvollziehen, dass die Süddeutsche das Thema ausgeblendet hat? Ja, wenn man an der Erzählung festhalten will, dass alle Macht vom Volke ausgeht und dieses Volk alle paar Jahre die Möglichkeit hat, seine Vertreter auszutauschen, wenn es unzufrieden ist. Jeder Bericht über die Bilderberger und andere Elitenzirkel, die ganz ähnlich funktionieren, würde am Lack der Demokratie-Erzählung kratzen. Selbst wenn die Leitmedien berichten wollten, wäre das nicht so einfach, da die Teilnehmer ja in aller Regel Stillschweigen versprechen müssen. Die Bilderberg-Konferenzen sichern Herrschaft über den Wahltag hinaus. Bis auf Adenauer war jeder Bundeskanzler mindestens einmal dort. Das gilt auch für viele andere Spitzenpolitiker, die anschließend gar nicht so selten richtig durchstarten konnten. An Orten wie Bilderberg klopft man die großen Linien fest und castet das Personal, das in der Lage ist, diese Linien umzusetzen. Sagt uns die Ignoranz der Süddeutschen gegenüber dem Thema Bilderberg etwas über den Journalisten Kornelius? Ich würde das gar nicht an seiner Person festmachen. Es sagt eher etwas über die Leitmedien insgesamt. Die großen Redaktionen sind so fest eingebunden in den Machtkomplex, dass ein Einzelner da kaum ausscheren kann. Kornelius ist, wie gesagt, nun Sprecher der Regierung. Er ist aber nicht der Einzige, der aus dem journalistischen Feld als Sprecher ins politische Feld gewechselt ist. Können Sie weitere Beispiele anführen? Wenn wir das erschöpfend machen wollten, würden wir heute nicht mehr fertig werden. Frank-Walter Steinmeier hat seine aktuelle Sprecherin 2022 auch von der SZ geholt – Cerstin Gammelin. Sie war vorher im Parlamentsbüro der Süddeutschen in Berlin. Gammelins Vorgängerin Anna Engelke kam 2017 aus dem ARD-Hauptstadtbüro. Jetzt leitet Engelke dort die Gemeinschaftsredaktion Radio. Es geht also hin und her. Das gilt auch eine Ebene tiefer. Im September 2021 sind auf einen Schlag drei der vier Landtagskorrespondenten in Rheinland-Pfalz Sprecher in Ministerien geworden. Wahrscheinlich müssen wir jetzt spekulieren: Aber was ist Ihre Ansicht? Wie läuft so ein Wechsel ab? Der gesunde Menschenverstand spricht dagegen, dass hier jemand ist, der maximal herrschaftskritisch agiert und dann aus dem Nichts aus der Politik bekommt, bei dem es heißt: Wir finden Ihre Arbeit so großartig. Wollen Sie für uns arbeiten? Wie sehen Sie das? Schön zu beobachten war das ja bei Michael Stempfle, der Anfang 2023 Sprecher im Verteidigungsministerium wurde. Ein paar Tage vorher hatte er Boris Pistorius auf tagesschau.de noch über den grünen Klee gelobt. Also ja: Da gibt es Beziehungen, Absprachen und Bewerbungsartikel. Sie wissen es selbst: Wir leben in einer Zeit, in der Medien und Politik wohl von vielen Bürgern so kritisch betrachtet werden wie noch nie. Die Vorwürfe der Komplizenschaft, ja, der Inzucht zwischen Journalismus und Politik finden sich überall. Lassen sich diese Vorwürfe an den Wechseln von Journalisten in den Dienst von Politikern festmachen? Diese Wechsel sind ein Punkt, an dem für jeden sichtbar wird, wie eng Medien und Politik verbandelt sind. Das gilt übrigens auch für andere Bereiche – für die Wirtschaft, für die Kultur, für den Sport, mittlerweile sogar für die Wissenschaft. Heute geht nichts mehr ohne öffentliche Zustimmung. Für alles, was Sie anpacken, benötigen Sie entweder Rückenwind aus den Leitmedien oder wenigstens keine negativen Berichte. Während vor 30, 40 Jahren oft Leute zum Pressesprecher gemacht wurden, die man woanders nicht mehr gebrauchen konnte, holt man sich heute Profis aus den Redaktionen und hofft auf ihr Know-how und ihre Kontakte. Wenn jemand wie Stefan Kornelius bei den Kollegen von einst anruft und um dieses oder jenes bittet, wird er eher Gehör finden als ein Laufbahnbeamter. Außerdem setzen die Apparate auf einen Imagetransfer. Wenn da ein Journalist sitzt mit der Aura des unabhängigen Berichterstatters, wirkt das immer noch glaubwürdiger als bei jedem Politiker, der ja per Definition Vertreter partikularer Interessen ist. Auf der Plattform X gibt es ein Video (0:15), das Kornelius am Tag der Wahl von Merz zum Kanzler im Bundestag zeigt. Und dann gibt es das Titelblatt der Süddeutschen Zeitung. Überschrift: „Bahn frei für einen Kanzler Merz“. Ich bitte um Einordnung. Besser kann man unser Gespräch nicht auf den Punkt bringen. Titelbild: Screenshot Bundesregierung via YouTube
12:17
Willkommen in der Clownswelt
Das „ZDF Magazin Royale“ und ein langer Artikel in der ZEIT haben dem rechten YouTuber „Clownswelt“ seine Anonymität genommen, ihn in seinem Umfeld geoutet und sogar seinen Eltern einen Hausbesuch abgestattet – das alles im Namen der Demokratie und im „Kampf gegen Rechts“. Dieser Fall wird seitdem von allen Seiten heiß diskutiert. Was dürfen „die Guten“, und sind sie überhaupt „gut“? Wer entscheidet, was ein „Demokratiefeind“ ist, und doxen wir uns jetzt einfach alle gegenseitig? Ein Kommentar von Maike Gosch. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Wie so viele andere in Deutschland habe ich mich in den letzten Tagen mit dem Fall Böhmermann und DIE ZEIT vs. Clownswelt beschäftigt (Hintergründe zum Vorgang in diesem Kommentar von Tobias Riegel den NachDenkSeiten). Und plötzlich fiel mir ein – ich hatte es tatsächlich vergessen –, dass ich selbst Anfang 2019 erfahren hatte, dass ich auch auf einer „Feindesliste“ von (vermutlich) Rechtsextremen mit meiner Privatadresse geoutet (damals kannte ich den Begriff „Doxing“ noch nicht) wurde. Die Liste trug übrigens den nicht sehr beruhigenden Namen „Wir kriegen euch alle“. Zur Klarstellung: Rechtsextremist sein bedeutete damals – zumindest im Sprachgebrauch meines Umfelds – auch noch nicht, „rechtskonservative Ansichten haben“ wie heute scheinbar, sondern wir meinten damit gewalttätige und gefährliche Gruppierungen und Banden wie die Neonazi-Gruppen, die seit den 90ern in Ostdeutschland (aber auch Westdeutschland) ihr Unwesen trieben und mit Baseball-Schlägern und Springerstiefeln mit Stahlkappen Menschen lebensgefährlich verletzten. Ich war vermutlich auf diese Liste geraten, weil ich einige Jahre vorher, ich glaube 2014, für kurze Zeit das Peng!-Kollektiv kommunikativ unterstützt hatte, und zwar bei ihrer politischen Kunst-Aktion auf der re:publica, die sich gegen den Konzern Google und seinen Umgang mit den Daten seiner Nutzer richtete. Einige Zeit später, im Jahr 2016, warf ein Mitglied des Kollektivs der AfD-Politikerin Beatrix von Storch bei einer Parteiveranstaltung als Clown verkleidet eine Torte ins Gesicht und nannte das eine „Kunstaktion“. Da hatte ich mich aber schon länger aus der Gruppe zurückgezogen und teilte auch die Meinung des Kollektivs nicht, dass diese Aktion gerechtfertigt sei, da es sich ja um eine anti-demokratische Partei handele. Ich nehme an, das war der Hintergrund dafür, dass ich auf dieser Liste gelandet war. Ich war nicht sehr besorgt und habe auch zum Glück keine Nachstellungen oder Bedrohungen dadurch erfahren. Anderen auf der Liste ging es aber anders. Ja, damals ging die Bedrohung durch „Doxing“ von „rechts“ aus und wir standen als „Linke“ im Schussfeld. Ein Mitglied des Peng!-Kollektivs bekam daraufhin Morddrohungen, und ein anderer Bekannter von mir, der auch auf der Liste stand, hatte wirklich Angst, machte sich Sorgen um seine Familie und überlegte eine Löschung seines Eintrags aus dem Melde. Fälle wie diese Feindeslisten (auf der auch Prominente wie Janine Wissler (Die Linke), Stefan Gelbhaar (Die Grünen) und die Publizistin Carolin Emcke sowie der Initiator der Aktionskunst-Gruppe „Zentrum für Politische Schönheit“, Philipp Ruch, standen), aber auch der später 2019 erfolgte politische Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke durch einen rechtsextremen Täter bildeten dann den Hintergrund für die im Jahr 2021 erfolgte Verschärfung des Strafrechts, die die Erstellung von Feindeslisten und auch das „Doxen“ (§ 126a StGB) unter besondere Strafe stellte. Warum erzähle ich das alles? Weil diese Spirale der Eskalation in Deutschland zwischen vermeintlich „links“ und vermeintlich „rechts“ sich nicht lösen lässt, ohne dass die beiden sich bekämpfenden Seiten Verständnis und Empathie füreinander entwickeln und nicht immer nur die schlechtestmögliche Interpretation für jedes Verhalten und jede Aussage annehmen. Ich selbst stehe in diesem politischen und Kulturkampf merkwürdig zwischen den Fronten: Wie ich hier schon öfter erzählt habe, komme ich eher aus dem links-grünen politischen und NGO-Umfeld, welches wiederum von Rechten wie auch dem YouTuber „Clownswelt“ gern als „linksversifft“ bezeichnet wird. Gleichzeitig habe ich zum Umgang mit „rechts“ und der AfD eine völlig andere Haltung als die Mehrzahl der Menschen in meinen früheren und auch jetzigen beruflichen und privaten Kreisen. Ich hatte damals bei meiner eigenen „Doxing-Erfahrung“ in einer E-Mail an einen anderen Betroffenen aus meinem sehr links-orientierten Umfeld geschrieben: „Am liebsten würde ich ja wissen, wer die Liste gemacht hat und mich mit den Leuten oder dem Menschen selbst treffen und einfach mal reden …“ Es liegt vielleicht daran, dass ich Juristin bin, oder auch daran, dass ich in den prägenden Jahren (Jugendzeit, in meinen 20ern) nicht selbst von rechtsextremer Gewalt betroffen war, im Gegensatz zu sehr vielen meiner Bekannten, die jetzt prominent Vertreter von „AfD-Verbot“ und dem Böhmermann-Doxing sind. Das sind insbesondere Männer, die in den 90ern und frühen 2000ern in der (oft ostdeutschen) Provinz aufwuchsen und mir Geschichten erzählt haben, wie sie damals in Jugendclubs und anderswo bedroht und verletzt wurden, nur weil sie „links“ aussahen, Dreadlocks trugen oder Punkmusik hörten. Sie haben wirklich und ehrlich Angst vor „Rechts“. Das ist aber nicht nur eine quasi physische Traumareaktion, sie haben auch – es sind sehr kluge und gebildete Leute darunter – intellektuell und strategisch eine ganz andere Lehre aus der Zeit des Nationalsozialismus gezogen als ich. Sie sind sich absolut sicher, dass wir es in Deutschland mit einem Wiedererwachen eines vergleichbar gefährlichen Rechtsextremismus zu tun haben wie in den frühen 30er-Jahren und glauben daher, Härte, Brandmauer und Ersticken im Keim (das ist ja bereits gescheitert) wären die einzig möglichen und sinnvollen Methoden des Umgangs damit. Oder wie es Jean Peters (früher Peng!-Kollektiv, dann Autor bei Jan Böhmermann und jetzt Senior Reporter bei Correctiv!) in einem Interview mit dem Tagesspiegel zu dem Tortenwurf auf Beatrix von Storch formulierte: Auf die Frage „Bleibt Ihr Tortenwurf nicht trotzdem undemokratisch? Sie haben schließlich die Tagung der AfD-Programmkommission unterbrochen.“ antwortete er: „Als jemand, der mit beiden Füßen auf dem Boden der demokratischen Grundordnung steht, habe ich mir diese Frage auch gestellt. Aber die AfD ist halt keine normale Partei. Ich würde sogar sagen, keine demokratische Partei. Führende Mitglieder nutzen jedes demokratische Mittel, das sie finden können, um konstruktive demokratische Prozesse zu unterwandern, die Demokratie von innen zu zersetzen. Sie greifen Pressefreiheit und Gewaltentrennung an. In diesem Fall halte ich es für legitim, zu gewaltfreien, aber auch undemokratischen Mitteln zu greifen.“ Jan Böhmermann und sein Team sowie der Journalist Christian Fuchs, der mit einem ausführlichen ZEIT-Artikel die „Enthüllungen“ im satirischen „ZDF Magazin Royale“ von Böhmermann ernsthaft-publizistisch flankierte, würden das sicher für naiv halten. Sie sind, wie Jean Peters, der Meinung, dass es sich bei „Clownswelt“ und Seinesgleichen („Hass-und-Hetze-Verbreiter“ und „kommunikatives Vorfeld der AfD“) um „Demokratiefeinde“ handele. Und gegen die sei jedes Mittel recht. Aber wer entscheidet denn, ob jemand „Demokratiefeind“ ist? Das Vorgehen der Journalisten bei DIE ZEIT und beim ZDF ist letztlich das eines Hobby-Verfassungsschutzes. Diese Journalisten maßen sich an, über ihre Mitbürger urteilen zu können. Sie sind Polizei, Staatsanwaltschaft, Richter und Strafvollzugsbehörden in einer Person. Nur weil sie und ihr Umfeld persönlich der Ansicht sind, es handele sich um „Demokratiefeinde“ und „Hass und Hetze“, fühlen sie sich zur Selbstjustiz berechtigt. Da sind wir leider nicht weit von der Argumentation der „Hammerbande“ entfernt, einer Gruppe von linksextremen Gewalttätern, die tatsächlich oder vermeintlich rechte und rechtsextreme Mitbürger mit Hämmern und Eisenstangen so brutal zusammenschlugen, dass ihnen Schädelknochen und Wirbelsäule brachen. Als Rechtfertigung brachten ihre Unterstützer an: Der Staat habe bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus versagt, deswegen müssten sie jetzt, quasi als „Bürgerwehr“, tätig werden. Natürlich ist es ein weiter Weg von öffentlicher Prangerwirkung und dem Versuch des Entzugs der finanziellen Lebensgrundlage durch Kontaktierung des gesamten Umfelds und auch der Werbepartner bis zu schwerer Körperverletzung. Aber die Anmaßung ist dieselbe. Denn ähnlich scheinen auch die Journalisten in diesem Fall zu denken: Die AfD wird immer erfolgreicher. Das kann nicht an beliebten oder überzeugenden Positionen liegen, sondern kann nur an Indoktrination und Propaganda durch ein „Vorfeld“ von z.B. agitierenden YouTubern liegen, die quasi den „Kompost“ schaffen, auf dem die AfD-Pflanze dann in den Himmel wächst. Der Staat versagt hier, die Gesetze genügen nicht, daher werden jetzt wir Hobby-Verfassungsschützer und Kämpfer für die Demokratie tätig. So etwa ihre Haltung. Sie sehen sich durch eine Quasi-Notwehr-Situation gerechtfertigt. Jetzt bin ich tatsächlich eine Freundin von zivilem Ungehorsam in Fällen, in denen der Staat aus meiner Sicht verfassungswidrig oder undemokratisch handelt (wie z.B. in der Coronakrise oder aktuell bei der – aus meiner Sicht – Kriegshetze der Regierung), aber was auch von den Hobby-Kommissaren übersehen wird, ist, dass sich ihr Vorgehen ja nicht gegen die Staatsmacht oder eine sonstige Übermacht richtet, sondern gegen oppositionelle Kräfte, die ja von der Staatsmacht bereits ebenfalls verfolgt werden. Außerdem spielt hier oft die Verwechslung von politischer Meinung mit Hass und Hetze, von Meinungsäußerung und Gewalt, von Regierungskritik mit Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, von Diskurs mit Desinformation eine Rolle. Das Problem ist hier nicht nur diese falsche Einschätzung der Situation, sondern die dahinterliegende Arroganz. Sie sehen sich als „Hüter“ ihrer Mitbürger, die andere politische Ansichten haben. Sie maßen sich an, darüber urteilen zu dürfen und nach ihren eigenen Maßstäben und Bewertungen Privatpolizei zu spielen, und zwar dort, wo selbst der inzwischen doch recht übergriffige Verfassungsschutz (Darf man das noch sagen, oder landet man damit gleich wieder in irgendeinem 1000-seitigen Bericht?) und selbst die strengen und – zumindest zu Coronazeiten – politisch instrumentalisierten YouTube-Regulatoren bei „Clownswelt“ nichts zu beanstanden gefunden haben. Es gibt aber das Gewaltmonopol des Staates aus gutem Grund. Was die selbsternannten Inquisitoren nie zu überlegen scheinen, ist, was logisch aus ihrer Vorgehensweise folgt: Kann dann auch jeder „Rechte“ entscheiden, dass ein „linker“ Journalist oder YouTuber ein „Demokratiefeind“ (Formulierung wäre hier vielleicht: „Deutschlandfeind“) sei, der gedoxt gehört, seinen Job verlieren und seine Einnahmemöglichkeiten durch Anzeigenkunden verlieren sollte, wenn die Regierung, das gesellschaftliche Klima und die Besetzung der Medien in Richtung AfD kippen würden? Sollte eine Partei, die z.B. aus Sicht der AfD „deutschlandfeindlich“ ist, durch einen von der AfD dominierten und geführten Verfassungsschutz wegen z.B. „Volksverrat“ verboten werden? Nein? Eben. Das wird meiner Ansicht nach nicht zu Ende gedacht, und diese Kurzsichtigkeit führt dann zu einem Vorgehen, das totalitäre Züge hat – also genau zu dem wird, was es vorgibt zu bekämpfen. Was wiederum denjenigen, die es tun, völlig zu entgehen scheint. Sie haben in ihrer Angst, in ihrer Agitation die Fähigkeit verloren, die Situation aus einem anderen als dem eigenen Blickwinkel zu sehen; und die Fähigkeit, die eigenen Prämissen zu hinterfragen, ja auch nur den leisesten Zweifel zu hegen: Was, wenn wir unrecht hätten? Ich habe das Gefühl, dass ein Teil der deutschen Gesellschaft in einem sehr emotional aufgewühlten und damit nicht mehr rationalen Zustand ist, was die AfD angeht. Alles, was irgendwie mit der AfD in Zusammenhang steht, weckt alte Traumata und Ängste, persönliche und historische. Genau, wie viele AfD-Wähler und -Fans (nicht alle) in einem aufgewühlten Zustand sind, was die von ihnen gesehene Gefahr durch Migranten angeht. Und sie sehen sich gegenseitig als Übermacht, was die Angst verstärkt: Die Anti-AfD-Fraktion bekämpft eine Kraft, die aus ihren Augen stark und bedrohlich ist (und macht sie dadurch nur immer stärker), die Menschen in Deutschland mit „rechten“ und „rechtsextremen“ Ansichten sehen sich wiederum von einem – aus ihrer Empfindung – übermächtigen poltisch-medial-kulturellen Komplex massiv unterdrückt und bedroht. Was wäre, wenn beide Seiten bei sich und beim Gegenüber diese Angst erkennen würden und unabhängig davon, ob sie sie für berechtigt halten, respektierten, dass vieles der Handlungen und Äußerungen der „Gegenseite“ aus dieser Angst heraus geschieht? Titelbild: Screenshot/ZDF
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Was interessiert uns unser Geschwätz von gestern?
Winston Churchill hat einmal gesagt: „Das beste Argument gegen die Demokratie ist ein fünfminütiges Gespräch mit einem durchschnittlichen Wähler“. Das ist nicht nett, widerspricht der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und würde heute sicher ausreichen, Herrn Churchill vom Verfassungsschutz mindestens als „Verdachtsfall“ beobachten zu lassen. Wenn ich mit meinen lieben Mitmenschen über den Ukrainekrieg, die Zeitenwende und die nun kommenden Rüstungsorgien spreche, muss ich jedoch eingestehen, dass der gute alte Winston mit diesem Spruch vielleicht doch nicht ganz falsch gelegen hat. So grübelte ich am Sonntagabend während des langweiligen „Polizeiruf 110“, woher die schrägen Positionen meiner Mitmenschen eigentlich kommen. Das kann doch nicht auf ihrem eigenen Mist gewachsen sein! Als der „Polizeiruf 110“ vorbei und alle Mörder hinter Gittern waren und der Trailer zum politischen Schlagabtausch bei Caren Miosga mich aus meinen Gedanken riss, war mir plötzlich alles klar. Eine Glosse von Jens Berger. Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar. Gut, dass es im erlaubten Meinungskorridor der öffentlich-rechtlichen Plauderbuden noch eine Konstante gibt, die da heißt: „Putin ist böse“. Ansonsten würde ich mittlerweile komplett die Orientierung verlieren. Vor kurzem war auch ich bekanntermaßen noch ein „Lumpenpazifist“, da ich mir wünschte, unsere Politik würde auf eine diplomatische Beendigung des Krieges in der Ukraine drängen. Heute ist dieser einst als naiv gebrandmarkte Wunsch Mainstream; zumindest dann, wenn man den Ausführungen unserer geliebten Talkshow-Experten, den Erklär-Onkeln und -Tanten der Nation, folgt. Was ich bislang nicht wusste: Nicht nur ich, sondern auch alle Experten sind im tiefsten Herzen Lumpenpazifisten! Anscheinend wussten sie dies jedoch bislang recht gut zu verbergen; so auch an diesem Sonntagabend bei Caren Miosga in der ARD. Es ging mal wieder um die Ukraine und um den bösen Putin, der nun – so will es die öffentlich-rechtliche Sprachregelung – nicht nur keinen Vornamen hat, sondern auch nicht mehr als Präsident von Russland, sondern schlicht als „Machthaber“ tituliert wird. Früher hätte man sich über so etwas noch gewundert, heute schätzt man als Zuschauer diese Einordnung. Denn nun weiß man gleich, was man von diesem oder jenem Staatschef zu halten hat. Wer durchweg gut ist, wird korrekt mit seinem Titel als „Präsident“, „Kanzler“ oder sonstwas bezeichnet. Wer aber den hohen moralischen Anforderungen unserer einordnenden Journalistenzunft nicht oder nicht mehr genügt, wird dem Publikum als „Autokrat“, „Diktator“ oder eben „Machthaber“ vorgestellt. So weiß man gleich – sollte die Tagesschau mal mit der Meldung „Machthaber Merz trifft sich mit Präsident Xi Jinping“ beginnen, haben die Chinesen die ARD gehackt. Aber zurück zu Miosga und den ÖRR-Talkshows. Gerade wenn es um den Themenkomplex Russland-Ukraine geht, wirkt es ja so, als gäbe es in ganz Deutschland nur eine Handvoll Experten, die etwas zum Thema beitragen können. Ich stelle mir das ja so vor, dass ein Praktikant bei ARD und ZDF ein paar Tage vor der Sendung einige Zettel, die mit Kiesewetter, Röttgen, Strack-Zimmermann, Masala, Major, Stelzenmüller usw. beschriftet sind, in eine Urne gibt und der Redaktionsleiter dann unter notarieller Aufsicht – schließlich sind wir im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und alles muss mit rechten Dingen zugehen – die Teilnehmer der nächsten Volksaufklärungsrunde zieht. Diesmal waren es die Namen Röttgen, Major und von Fritsch … nur nicht den Zuschauer durch neue Gesichter verwirren! Verwirrt war ich jedoch in der Tat, glaubte ich doch, die Positionen dieser drei Experten bereits aus dem Effeff zu kennen. Was haben sie uns nicht drei Jahre lang alles erzählt. Russland stünde kurz vor der Niederlage auf dem Schlachtfeld, habe kaum noch Munition und Soldaten und die paar Soldaten, die meist aus Zuchthän an die Front geschickt würden, stünden ohnehin kurz vor der Meuterei. Klar, die Sanktionen haben ja das Land auch isoliert und ausgehungert. Es sei daher nur eine Frage der Zeit, bis das Reich des Bösen kollabiere und die freiheitsliebenden Russen ihren Machthaber/Diktator/Zaren/Potentaten/Autokraten stürzten. Wer – wie ich – den Krieg durch Verhandlungen beenden wollte, war daher auch ein Lumpenpazifist, ein Verräter, Naivling und sowieso von Putin höchstpersönlich gekauft. Diese Sprachregelung galt über das gesamte erste Kriegsjahr. Man habe ja nichts per se gegen Verhandlungen, doch dürften die nur in einer Situation stattfinden, in der der Westen aus einer Position der militärischen Stärke heraus verhandeln kann; also keinesfalls dann, wenn die Ukraine in der Defensive ist, was sie aber während des ersten Kriegsjahres ständig war. Als die Ukraine dann im Sommer 2023 tatsächlich eine erfolgreiche Gegenoffensive durchführte und man gemäß dem Geschwätz von gestern Verhandlungen fordern müsste, wollte man das nun auch nicht mehr. Die Ukraine habe ja nun ein Momentum auf dem Schlachtfeld und das Gerede von einem Waffenstillstand oder Verhandlungen würde in dieser Situation dem Erzschurken aus Moskau nur Zeit verschaffen. Nein, nun werde die glorreiche ukrainische Armee das Ding durchziehen und schon bald Putins Nachfolger einen Siegfrieden oktroyieren. Nur eins änderte sich nicht: Wer auch nur die Begriffe Waffenstillstand und Verhandlungen in den Mund nahm, war ein Defätist und – natürlich, was auch sonst – von Putin bezahlt. Es kam anders, als es die Experten prophezeiten. Das Momentum ist Geschichte, seit nunmehr fast zwei Jahren führt Russland einen Abnutzungskrieg – wäre das nicht mal ein Kandidat für das Unwort des Jahres? In den USA herrscht nun Donald Trump, der selbst kurz vor der medialen Degradierung vom Präsidenten zum Machthaber steht und irgendwie das Interesse an diesem Stellvertreterkrieg verloren hat. Die Schar der Guten hat sich dezimiert, nennt sich jetzt „Koalition der Willigen“ und von einem Sturz Putins oder gar einem Feldzug der Ukrainer gen Moskau träumt schon lange niemand mehr. O tempora, o mores! Das mit der Zeitenwende haben wir uns aber anders vorgestellt. Für das Talkshowpublikum stellt diese Wende der Zeitenwende eine große Herausforderung dar. War Putin vor kurzem noch der Leibhaftige, mit dem man nie und nimmer verhandeln darf, ist er nun der Leibhaftige, weil er nicht selbst und höchstpersönlich zu Verhandlungen erscheint. Was erlaube Putin! Ganz ehrlich – kommen Sie da noch mit? Ich nicht. Aber zum Glück ordnen die Talkshowexperten bei Miosga und Co. diesen Gedankenbrei ja für mich ein. Von Frau Claudia Major erfahre ich bei Miosga beispielsweise, dass „die westlichen Staaten“ ja „schon immer auf Diplomatie setzten, um diesen Krieg zu beenden“, dieser fromme und durch und durch integre Wunsch aber stets am bösen Putin abprallte. Ei der Daus! Da muss ich wohl was vert haben. Wo waren sie denn, die Friedensinitiativen des Westens während der letzten drei Jahre? Wer das alles verstehen will, dem sei ausnahmsweise mal ein Blick in den SPIEGEL empfohlen. Dort erklärt man mit entwaffnender Ehrlichkeit die „komplizierte Strategie“ und die damit verbundene Sprachregelung: „Seit Wochen setzen die Europäer alles daran, Putin als Friedensverhinderer zu brandmarken“. Soll das etwa heißen …? Sehen Sie, es kann doch alles so einfach sein. Nun sitzen diejenigen, die noch bis vor kurzem hinter jeder Forderung nach Waffenstillstand und Verhandlungen eine bezahlte Kampagne der Fünften Kolonne Moskaus gesehen haben, selbst auf den Talkshowsesseln und haben eine 180-Grad-Zeitenwende vollzogen. Ja, was interessiert uns unser Geschwätz von gestern! Nun ist man selbst – und war es natürlich schon immer(!) – für einen Waffenstillstand und Verhandlungen, und einzig und allein der Leibhaftige in Moskau, der Friedensverhinderer, sehe dies anders. Der wollte ja noch nicht einmal in die Türkei kommen, um mit dem heiligen Wolodymyr persönlich zu sprechen! Wie viele Beweise braucht es denn noch, um zu sehen, dass wir – wie immer – die Guten sind? Hätten die Macher dieser Talkshows nur einen Hauch von Berufsehre, würden sie diese wundersame Kehrtwende der Argumentation ihres einordnenden Humaninventars hinterfragen oder gar thematisieren. Doch das könnte den Zuschauer ja verunsichern und in diesen schweren Zeiten ist Kontinuität das Gebot der Stunde. Vertrauen Sie uns, wir denken, sagen und machen schon das Richtige! Versuchen Sie besser gar nicht erst, uns und unsere Positionen zu hinterfragen, und schalten Sie Ihr Gedächtnis besser aus. Krieg ist Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke. Bis zur nächsten Woche und viel Spaß beim Vermehren der gewonnenen Einsichten. Titelbild: Screenshot Das Erste
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